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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Wind -- der vielleicht die innere Bewegung andeuten sollte? -- weht, läßt
den Beschauer absolut gleichgiltig.

Allein was Gretchen nicht offenbart, das zeigen vielleicht die Mädchen
am Brunnen an, die aus dem Hintergrunde mit schadenfroher Schamlosig.
keit auf die Betende deuten. In ihren Mienen und Geberden ist es ja aus-
gesprochen, daß die stolze Schöne zu Fall gekommen, daß ihr die Liebe un¬
endliches Leid bereitet. Die Verehrer Kaulbachs werden in dieser Verquickung
zwei ganz verschiedener Scenen, die jede für sich genommen von größter Wir¬
kung sind und das Unglück Gretchens in successiver Steigerung darstellen,
eine von den geistreichen Beziehungen finden, an denen, wie sie rühmen, der
Kaulbach'sche Genius so reich ist. Sie werden sagen, daß durch den Con¬
trast mit dem Spott und Hohn der Weiber die von Schmerz gebeugte Ge¬
stalt nur um so ergreifender wirke, daß durch den Gegensatz zu ihrer Schaden¬
freude die schöne Seele selbst aus der Gesunkenen noch hervorleuchte. Wir
dagegen können in dem gewaltsamen Zusammenrücken der beiden Situatio¬
nen nur einen Einfall der modernen Absichtlichkeit erblicken, die alles Mög¬
liche in Verbindung bringt, deshalb nichts in seinem einfachen Sein beläßt
und so die wesentliche substantielle Natur der Dinge zersetzt. Die gesuchte
Beziehung tritt als geniale Erfindung des Subjects auf. das mit den Dingen
willkürlich umspringt, und nimmt diesen gegen eine Scheinexistenz ihr eigenes
Leben. Schon in der Poesie ist dieses geistreiche Verknüpfen verschieden¬
artiger Elemente vom Uebel; es ist die Blasirtheit. die der einfachen Verhält¬
nisse überdrüssig ist und nur noch in dem Durcheinandcrwerfcn einen Reiz
findet, indem es sich darin als Angelpunkt der Welt fühlt. Daß darin die
Poesie ebensowol als das talentvolle Subject zu Grunde geht, haben wir
an Heine erlebt. Noch schlimmer, daß auch die Kunst nach geistreichen Ein¬
fallen hascht und dem Spiele des absichtsvoller Verstandes nachgeht. Es ist,
wie wenn sie an der reinen Erscheinung der Dinge keine Freude mehr hätte,
wie wenn die Fähigkeit und der Genuß der freien Anschanung verloren wäre.
Man sucht das Interessante. Zugespitzte, Epigrammatische, man weidet den
Objekten ihre eigene Seele aus. um ihnen "Geist" zu geben. Nun gar das
Kaulbach'sche Blatt. Das arme holde Kind trägt seinen Gram, der das Licht
scheut, der sich selbst ein Geheimniß sein möchte, auf der Gasse zur Schau,
schüttet ihn vor den Mädchen am Brunnen aus! Dieses Gleichen ist nie
keusch gewesen, und der. Schmerz, der sich schamlos auf dem öffentlichen
Markt zum Besten gibt, hat freilich nichts von der Tiefe und Innigkeit, die
der Dichter ihm gegeben hat. --

Genug vom Gretchen, das der Künstler arg mißhandelt hat. Vielleicht
'se ihm die Darstellung eines classische" Stoffs besser gelungen, da die alte


Gttnzbitc" II. 1861. 8

Wind — der vielleicht die innere Bewegung andeuten sollte? — weht, läßt
den Beschauer absolut gleichgiltig.

Allein was Gretchen nicht offenbart, das zeigen vielleicht die Mädchen
am Brunnen an, die aus dem Hintergrunde mit schadenfroher Schamlosig.
keit auf die Betende deuten. In ihren Mienen und Geberden ist es ja aus-
gesprochen, daß die stolze Schöne zu Fall gekommen, daß ihr die Liebe un¬
endliches Leid bereitet. Die Verehrer Kaulbachs werden in dieser Verquickung
zwei ganz verschiedener Scenen, die jede für sich genommen von größter Wir¬
kung sind und das Unglück Gretchens in successiver Steigerung darstellen,
eine von den geistreichen Beziehungen finden, an denen, wie sie rühmen, der
Kaulbach'sche Genius so reich ist. Sie werden sagen, daß durch den Con¬
trast mit dem Spott und Hohn der Weiber die von Schmerz gebeugte Ge¬
stalt nur um so ergreifender wirke, daß durch den Gegensatz zu ihrer Schaden¬
freude die schöne Seele selbst aus der Gesunkenen noch hervorleuchte. Wir
dagegen können in dem gewaltsamen Zusammenrücken der beiden Situatio¬
nen nur einen Einfall der modernen Absichtlichkeit erblicken, die alles Mög¬
liche in Verbindung bringt, deshalb nichts in seinem einfachen Sein beläßt
und so die wesentliche substantielle Natur der Dinge zersetzt. Die gesuchte
Beziehung tritt als geniale Erfindung des Subjects auf. das mit den Dingen
willkürlich umspringt, und nimmt diesen gegen eine Scheinexistenz ihr eigenes
Leben. Schon in der Poesie ist dieses geistreiche Verknüpfen verschieden¬
artiger Elemente vom Uebel; es ist die Blasirtheit. die der einfachen Verhält¬
nisse überdrüssig ist und nur noch in dem Durcheinandcrwerfcn einen Reiz
findet, indem es sich darin als Angelpunkt der Welt fühlt. Daß darin die
Poesie ebensowol als das talentvolle Subject zu Grunde geht, haben wir
an Heine erlebt. Noch schlimmer, daß auch die Kunst nach geistreichen Ein¬
fallen hascht und dem Spiele des absichtsvoller Verstandes nachgeht. Es ist,
wie wenn sie an der reinen Erscheinung der Dinge keine Freude mehr hätte,
wie wenn die Fähigkeit und der Genuß der freien Anschanung verloren wäre.
Man sucht das Interessante. Zugespitzte, Epigrammatische, man weidet den
Objekten ihre eigene Seele aus. um ihnen „Geist" zu geben. Nun gar das
Kaulbach'sche Blatt. Das arme holde Kind trägt seinen Gram, der das Licht
scheut, der sich selbst ein Geheimniß sein möchte, auf der Gasse zur Schau,
schüttet ihn vor den Mädchen am Brunnen aus! Dieses Gleichen ist nie
keusch gewesen, und der. Schmerz, der sich schamlos auf dem öffentlichen
Markt zum Besten gibt, hat freilich nichts von der Tiefe und Innigkeit, die
der Dichter ihm gegeben hat. —

Genug vom Gretchen, das der Künstler arg mißhandelt hat. Vielleicht
'se ihm die Darstellung eines classische» Stoffs besser gelungen, da die alte


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[0067] Wind — der vielleicht die innere Bewegung andeuten sollte? — weht, läßt den Beschauer absolut gleichgiltig. Allein was Gretchen nicht offenbart, das zeigen vielleicht die Mädchen am Brunnen an, die aus dem Hintergrunde mit schadenfroher Schamlosig. keit auf die Betende deuten. In ihren Mienen und Geberden ist es ja aus- gesprochen, daß die stolze Schöne zu Fall gekommen, daß ihr die Liebe un¬ endliches Leid bereitet. Die Verehrer Kaulbachs werden in dieser Verquickung zwei ganz verschiedener Scenen, die jede für sich genommen von größter Wir¬ kung sind und das Unglück Gretchens in successiver Steigerung darstellen, eine von den geistreichen Beziehungen finden, an denen, wie sie rühmen, der Kaulbach'sche Genius so reich ist. Sie werden sagen, daß durch den Con¬ trast mit dem Spott und Hohn der Weiber die von Schmerz gebeugte Ge¬ stalt nur um so ergreifender wirke, daß durch den Gegensatz zu ihrer Schaden¬ freude die schöne Seele selbst aus der Gesunkenen noch hervorleuchte. Wir dagegen können in dem gewaltsamen Zusammenrücken der beiden Situatio¬ nen nur einen Einfall der modernen Absichtlichkeit erblicken, die alles Mög¬ liche in Verbindung bringt, deshalb nichts in seinem einfachen Sein beläßt und so die wesentliche substantielle Natur der Dinge zersetzt. Die gesuchte Beziehung tritt als geniale Erfindung des Subjects auf. das mit den Dingen willkürlich umspringt, und nimmt diesen gegen eine Scheinexistenz ihr eigenes Leben. Schon in der Poesie ist dieses geistreiche Verknüpfen verschieden¬ artiger Elemente vom Uebel; es ist die Blasirtheit. die der einfachen Verhält¬ nisse überdrüssig ist und nur noch in dem Durcheinandcrwerfcn einen Reiz findet, indem es sich darin als Angelpunkt der Welt fühlt. Daß darin die Poesie ebensowol als das talentvolle Subject zu Grunde geht, haben wir an Heine erlebt. Noch schlimmer, daß auch die Kunst nach geistreichen Ein¬ fallen hascht und dem Spiele des absichtsvoller Verstandes nachgeht. Es ist, wie wenn sie an der reinen Erscheinung der Dinge keine Freude mehr hätte, wie wenn die Fähigkeit und der Genuß der freien Anschanung verloren wäre. Man sucht das Interessante. Zugespitzte, Epigrammatische, man weidet den Objekten ihre eigene Seele aus. um ihnen „Geist" zu geben. Nun gar das Kaulbach'sche Blatt. Das arme holde Kind trägt seinen Gram, der das Licht scheut, der sich selbst ein Geheimniß sein möchte, auf der Gasse zur Schau, schüttet ihn vor den Mädchen am Brunnen aus! Dieses Gleichen ist nie keusch gewesen, und der. Schmerz, der sich schamlos auf dem öffentlichen Markt zum Besten gibt, hat freilich nichts von der Tiefe und Innigkeit, die der Dichter ihm gegeben hat. — Genug vom Gretchen, das der Künstler arg mißhandelt hat. Vielleicht 'se ihm die Darstellung eines classische» Stoffs besser gelungen, da die alte Gttnzbitc» II. 1861. 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/67>, abgerufen am 25.08.2024.