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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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und die Wirkung desselben in der mannigfaltig abgestuften Bewegtheit der
Umstehenden vor Augen hatte. Dagegen zeigt das Kaulbach'sche Blatt nicht,
was das einsam betende Mädchen so tief ergreifend bewegt, noch welcher Art
ihre Empfindung ist, kann es nicht zeigen. Gretchen trägt eben den Gegen¬
stand ihres Schmerzes, die ganze Leidensgeschichte ihrer Liebe tief in
sich, sie ist allein und verlassen, ihr Jammer besteht eben darin mit, daß sie
nirgends Theilnahme, nirgends ein mitfühlendes Wesen findet. Man wende
nicht ein, daß sich die Zeichnung an die Dichtung lehne, daß der Anschauende
die ganze Gemüthsbewegung Gretchens kenne, daß ihm der leidenschaftlich
geneigte Körper und die Umgebung das ganze Elend der Betenden vor die
Phantasie bringe. Will der Künstler ein vom Affect ergriffenes Individuum
darstellen, so muß schlechterdings auch klar und deutlich die Empfindung aus¬
gedrückt sein, welche die Gestalt bewegt. Der Maler, der seinen Stoff dem
Dichter entnimmt, darf mir wol zumuthen, daß ich die Ursache der Empfindung
kenne, die er mir zur Anschauung bringen will; aber diese selbst muß er wirk¬
lich zur Anschauung bringen. Wenn er eine Seelenstimmung oder Thätig¬
keit nur ungefähr, nur andeutend darstellen kann, weil sie sich mit der Bestimmt¬
heit des plastischen oder malerischen Ausdrucks nicht wiedergeben läßt, so soll
er sie lieber gar nicht darstellen.

Es ist eben mit diesem Gretchen ein ganz ähnlicher Fall wie oben mit
Clärchen, nur daß hier die Gemüthsbewegung eine gerade entgegengesetzte
Wirkung hat. Dort trieb die äußerste Verzweiflung, die noch nicht verzichtet
hat, die gewaltsam in den Gang der Duige eingreifen will, überströmend das
Gemüth ganz nach außen, sie war so sehr zum absoluten Ausdruck geworden,
daß sie die Gestalt aus ihrem natürlichen Wesen und Gebahren heranszerrte;
und deshalb war sie unmalerisch. In Gretchen hingegen hat sich die Ver¬
zweiflung in ihr innerstes Herz hineingewühlt, verschlossen, geheim wie ihre
Liebe ist ihr Schmerz, er frißt ihr verborgen an der Seele und nur in ein-
samen Gebete und stiller Wehklage bebt bisweilen der in der Tiefe wüthende
Sturm über die Oberflüche hin. Auch diese Stimmungin der das von der
Welt abgewandte Gemüth in sich versunken ist und die verhaltene Empfindung
nur hier und da in dem flüchtigen Aufschlag des thränenschwerem Auges
hervorbricht/läßt sich wie gesagt bildlich nicht ausdrücken. Das Gebet ist
hier rein lyrischer Ausdruck, bloß poetisch; dieser besteht aber darin, daß er
auf das Innere fortwährend zurückweist und in den einzelnen Ausbiüchen zeigt
sich nur, daß der im Busen verschlossene Schmerz nicht heraus kann. Für die
Malerei ist jene stürmische Bewegtheit, mit der Clärchen auf die Gasse stürzt,
ein zu Viel, während andrerseits der stille Gram des verlassenen Gretchens
ein zu Wenig ist. -- Die zu Bpden geneigte Gestalt, um deren Füße der
Mantel in stolzem Faltenwurf sich hinbreitet, in deren Zöpfe ein stürmischer


und die Wirkung desselben in der mannigfaltig abgestuften Bewegtheit der
Umstehenden vor Augen hatte. Dagegen zeigt das Kaulbach'sche Blatt nicht,
was das einsam betende Mädchen so tief ergreifend bewegt, noch welcher Art
ihre Empfindung ist, kann es nicht zeigen. Gretchen trägt eben den Gegen¬
stand ihres Schmerzes, die ganze Leidensgeschichte ihrer Liebe tief in
sich, sie ist allein und verlassen, ihr Jammer besteht eben darin mit, daß sie
nirgends Theilnahme, nirgends ein mitfühlendes Wesen findet. Man wende
nicht ein, daß sich die Zeichnung an die Dichtung lehne, daß der Anschauende
die ganze Gemüthsbewegung Gretchens kenne, daß ihm der leidenschaftlich
geneigte Körper und die Umgebung das ganze Elend der Betenden vor die
Phantasie bringe. Will der Künstler ein vom Affect ergriffenes Individuum
darstellen, so muß schlechterdings auch klar und deutlich die Empfindung aus¬
gedrückt sein, welche die Gestalt bewegt. Der Maler, der seinen Stoff dem
Dichter entnimmt, darf mir wol zumuthen, daß ich die Ursache der Empfindung
kenne, die er mir zur Anschauung bringen will; aber diese selbst muß er wirk¬
lich zur Anschauung bringen. Wenn er eine Seelenstimmung oder Thätig¬
keit nur ungefähr, nur andeutend darstellen kann, weil sie sich mit der Bestimmt¬
heit des plastischen oder malerischen Ausdrucks nicht wiedergeben läßt, so soll
er sie lieber gar nicht darstellen.

Es ist eben mit diesem Gretchen ein ganz ähnlicher Fall wie oben mit
Clärchen, nur daß hier die Gemüthsbewegung eine gerade entgegengesetzte
Wirkung hat. Dort trieb die äußerste Verzweiflung, die noch nicht verzichtet
hat, die gewaltsam in den Gang der Duige eingreifen will, überströmend das
Gemüth ganz nach außen, sie war so sehr zum absoluten Ausdruck geworden,
daß sie die Gestalt aus ihrem natürlichen Wesen und Gebahren heranszerrte;
und deshalb war sie unmalerisch. In Gretchen hingegen hat sich die Ver¬
zweiflung in ihr innerstes Herz hineingewühlt, verschlossen, geheim wie ihre
Liebe ist ihr Schmerz, er frißt ihr verborgen an der Seele und nur in ein-
samen Gebete und stiller Wehklage bebt bisweilen der in der Tiefe wüthende
Sturm über die Oberflüche hin. Auch diese Stimmungin der das von der
Welt abgewandte Gemüth in sich versunken ist und die verhaltene Empfindung
nur hier und da in dem flüchtigen Aufschlag des thränenschwerem Auges
hervorbricht/läßt sich wie gesagt bildlich nicht ausdrücken. Das Gebet ist
hier rein lyrischer Ausdruck, bloß poetisch; dieser besteht aber darin, daß er
auf das Innere fortwährend zurückweist und in den einzelnen Ausbiüchen zeigt
sich nur, daß der im Busen verschlossene Schmerz nicht heraus kann. Für die
Malerei ist jene stürmische Bewegtheit, mit der Clärchen auf die Gasse stürzt,
ein zu Viel, während andrerseits der stille Gram des verlassenen Gretchens
ein zu Wenig ist. — Die zu Bpden geneigte Gestalt, um deren Füße der
Mantel in stolzem Faltenwurf sich hinbreitet, in deren Zöpfe ein stürmischer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/66>, abgerufen am 25.08.2024.