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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Welt durchaus anschaulich und plastisch das innerliche Leben ganz in die
Erscheinung aufnimmt. Hier ist Alles Form und Gestalt, daher die Zeich¬
nung des schwungvollen Umrisses ganz in ihrem Elemente; hier ist kein Nest
von geheimnißvoller Seelentiefe, der in den sichtbaren Ausdruck nicht aufginge.
Freilich hat der moderne Dichter zum Theil, was der Grieche als objective
Macht sich gegenüberstellte, in die menschliche Brust zurückverlegt und die Con¬
flicte, welche die Alten nach ihrer besondern politischen und religiösen An¬
schauungsweise lösten, in einfach menschlicher Weise gelöst. Nicht zu genau
darf daher der Künstler der griechischen Phantasie folgen, wenn er dem Goethe-
scher Geiste sein Recht thun will. Die Gestalten sind wol ganz in das
tiystallhclle Element der classischen Formen-Festigkeit und Klarheit getaucht,
aber sie tragen in sich die Unendlichkeit des allgemein menschlichen Wesens;
sie haben die classische Schönheit, ohne deren geschichtliche Schranke zu haben.
Die Situation, die sich der Künstler gewählt hat. ist nicht mit voller Be¬
stimmtheit anzugeben, Es ist Orest, entweder wie er der noch unbekannten
Schwester die Unehe der Erinnyen an dem Muttermördcr rin der vollen Er¬
innerung der Qual schildert, oder wie er nach der Erkennung Jphigeniens
im Gedanken, daß er bestimmt sei, durch sie zu sterben, die Furien zu diesem
Schauspiele aufruft. Für jenes spricht die Gegenwart der Nachegöttinncn,
sür dieses die Haltung Jphigeniens, die den verzweifelnden Bruder zu be¬
schwichtigen sucht. Mag dem nun sein wie ihm wolle: schon an der äußer¬
lichen Auffassung ließe sich mancherlei aussetzen. Da dem Künstler ein für
die plastische Bildung günstiger Stoff sich bot. weshalb unternahm er es,
die Furien darzustellen? bei den Alten finden sich diese nur selten in wirklichen
Kunstwerken, sondern meistens auf Vasen und etruskischen Sarkophagen ab¬
gebildet. Und jene -- seltenen -- Statuen hatten, wie Pausanias sich aus¬
drückt nichts Furchtbares, es waren die schönen hochgeschürzten Jägerinnen;
ja es ist sogar mehr als wahrscheinlich, daß Skopas in seinen Furien nicht
die furchtbaren Rächerinnen, die eigentlichen Erinnyen, sondern die wohlwollen¬
den Wächterinnen des Sittlichen und Guten, die Eumeniden, die von den
Athenern verehrten Senna darstellte. Aber zugegeben auch, daß sich der
moderne Künstler an die maßvollen Regeln der Alten nicht zu halten brauche:
dennoch hätte er die Furien, die in dem milden versöhnlichen Gange des
Dramas nur wie ferne kaum angedeutete Schatten vorüberziehen, die ja dem
heiligen Haine Diana's nickt nahen dürfen, in sein Bild nicht aufnehmen
sollen; die Wesen, in deren dunkler unbestimmter Vorstellung die moderne
Phantasie sich gefällt, nicht in fester Gestalt, in naher Körperlichkeit darstellen
sollen. Und endlich: der Künstler traf den Goethe'schen Genius nicht, da er
sie so dem Orestes gegenüberstellte. Orestes fühlt ihr Treiben ebenso sehr
und noch mehr in der eigenen Brust, als er es im griechischen Sinne von


Welt durchaus anschaulich und plastisch das innerliche Leben ganz in die
Erscheinung aufnimmt. Hier ist Alles Form und Gestalt, daher die Zeich¬
nung des schwungvollen Umrisses ganz in ihrem Elemente; hier ist kein Nest
von geheimnißvoller Seelentiefe, der in den sichtbaren Ausdruck nicht aufginge.
Freilich hat der moderne Dichter zum Theil, was der Grieche als objective
Macht sich gegenüberstellte, in die menschliche Brust zurückverlegt und die Con¬
flicte, welche die Alten nach ihrer besondern politischen und religiösen An¬
schauungsweise lösten, in einfach menschlicher Weise gelöst. Nicht zu genau
darf daher der Künstler der griechischen Phantasie folgen, wenn er dem Goethe-
scher Geiste sein Recht thun will. Die Gestalten sind wol ganz in das
tiystallhclle Element der classischen Formen-Festigkeit und Klarheit getaucht,
aber sie tragen in sich die Unendlichkeit des allgemein menschlichen Wesens;
sie haben die classische Schönheit, ohne deren geschichtliche Schranke zu haben.
Die Situation, die sich der Künstler gewählt hat. ist nicht mit voller Be¬
stimmtheit anzugeben, Es ist Orest, entweder wie er der noch unbekannten
Schwester die Unehe der Erinnyen an dem Muttermördcr rin der vollen Er¬
innerung der Qual schildert, oder wie er nach der Erkennung Jphigeniens
im Gedanken, daß er bestimmt sei, durch sie zu sterben, die Furien zu diesem
Schauspiele aufruft. Für jenes spricht die Gegenwart der Nachegöttinncn,
sür dieses die Haltung Jphigeniens, die den verzweifelnden Bruder zu be¬
schwichtigen sucht. Mag dem nun sein wie ihm wolle: schon an der äußer¬
lichen Auffassung ließe sich mancherlei aussetzen. Da dem Künstler ein für
die plastische Bildung günstiger Stoff sich bot. weshalb unternahm er es,
die Furien darzustellen? bei den Alten finden sich diese nur selten in wirklichen
Kunstwerken, sondern meistens auf Vasen und etruskischen Sarkophagen ab¬
gebildet. Und jene — seltenen — Statuen hatten, wie Pausanias sich aus¬
drückt nichts Furchtbares, es waren die schönen hochgeschürzten Jägerinnen;
ja es ist sogar mehr als wahrscheinlich, daß Skopas in seinen Furien nicht
die furchtbaren Rächerinnen, die eigentlichen Erinnyen, sondern die wohlwollen¬
den Wächterinnen des Sittlichen und Guten, die Eumeniden, die von den
Athenern verehrten Senna darstellte. Aber zugegeben auch, daß sich der
moderne Künstler an die maßvollen Regeln der Alten nicht zu halten brauche:
dennoch hätte er die Furien, die in dem milden versöhnlichen Gange des
Dramas nur wie ferne kaum angedeutete Schatten vorüberziehen, die ja dem
heiligen Haine Diana's nickt nahen dürfen, in sein Bild nicht aufnehmen
sollen; die Wesen, in deren dunkler unbestimmter Vorstellung die moderne
Phantasie sich gefällt, nicht in fester Gestalt, in naher Körperlichkeit darstellen
sollen. Und endlich: der Künstler traf den Goethe'schen Genius nicht, da er
sie so dem Orestes gegenüberstellte. Orestes fühlt ihr Treiben ebenso sehr
und noch mehr in der eigenen Brust, als er es im griechischen Sinne von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/68>, abgerufen am 24.08.2024.