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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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lösung des Kongresses zurückbleiben, scheinen keinen andern Beruf zu haben,
als den der Hamster und anderer Winterschläfer. Es geht dann ein Etwas
durch die Straßen, was sie mit einem Ballsaal oder Clubzimmer nach einer
durchschwärmten Nacht vergleichen läßt. Während dieser Ruhezeit besteht die
Bevölkerung aus den hohen und niedern Beamten der Bundesregierung, dem
diplomatischen Corps, wenig beschäftigten Kaufleuten, Gastwirthen, Logis¬
vermiethern, Zeitungsredactcureu, Bankiers, einigen Handwerkern und Sklaven.
Zieht sich die vornehmere Gesellschaft in den ungesunden Monaten August
und September gänzlich aus der Stadt zurück, was oft geschieht, so kann man
sich kaum etwas Leereres und Oederes denken, als die amerikanische Hauptstadt
mit ihren breiten auf eine Bevölkerung von Hunderttausenden berechneten
Straßen. Sie ist dann ein Schiff bei Windstille, eine Oase, der die Brun¬
nen versiegt sind, ein socialer Leichnam.

Aus diesem Zustande erwacht die Stadt allmälig gegen Anfang Decem¬
ber, da der erste Montag in diesem Monat nach der Verfassung den Kongreß
versammelt. Schon einige Wochen vor diesem Zeitpunkte gibt die Stadt
Zeichen, daß sie ausgeschlafen hat: die Hotels öffnen ihre Fensterladen, ganze
Straßen von Boardinghäusern werden für den Winter in Ordnung gebracht,
die Kaufleute vervollständigen ihre Vorräthe und schmücken ihre Schaufenster
mit neuen Moden, und das große verödete Dorf nimmt wieder das Aeußere einer
ziemlich belebten Stadt an. Endlich trifft die Bevölkerung ein, die das
eigentliche Leben von Washington ausmacht. Nach Beginn des neuen Jah¬
res hat dieses Leben seinen Kulminationspunkt erreicht, und jetzt bewegt sich
die heterogenste Gesellschaft durch die Straßen. Innerhalb eines beschränkten
Spielraums begegnet man dem halbwilden Mann der Territorien des fernen We¬
stens, Jndianergcsandtschaften, Mormoncndelegaten, stämmigen Hinterwäldlern,
dem feingebildeten Bostoner, dem "smarten" Sam Stick der Neuenglandstaaten,
dem unternehmenden'Neuyorter, dem ernsten gemessenen Philadclphianer, dem
Cavalier von Virginien und Südcarolina, dem heißblütigen Krcolenpflanzer
von den Ufern des Alabama und den Bayous des Mississippi. Wäre Wash¬
ington eine große Stadt mit einer starken permanenten, von den Zufällig¬
keiten der Wahlen unabhängigen Gesellschaft, so könnte dieser Andrang wider¬
sprechender Elemente von Zeit zu Zeit stattfinden, ohne einen andern Einfluß
zu üben, als den, welchen unsre Messen aus die betreffenden Städte äußern.
Unter den obwaltenden Umständen aber ist der Einfluß der Fremden auf den
Ton der Gesellschaft für letztere ausschlaggebend, und es ist unmöglich, aus
den mannichfaltigen Bildungsstufen, den verschiedenartigen Gewohnheiten, den
widerstrebenden Empfindungen, den entgegengesetzten Meinungen, Absichten
und Neigungen dieses bunt zusammengewürfelten Schwarmes von Gesetzge¬
bern und Parteiführern, Amtsjägern. Glücksrittern und Müßiggängern das


lösung des Kongresses zurückbleiben, scheinen keinen andern Beruf zu haben,
als den der Hamster und anderer Winterschläfer. Es geht dann ein Etwas
durch die Straßen, was sie mit einem Ballsaal oder Clubzimmer nach einer
durchschwärmten Nacht vergleichen läßt. Während dieser Ruhezeit besteht die
Bevölkerung aus den hohen und niedern Beamten der Bundesregierung, dem
diplomatischen Corps, wenig beschäftigten Kaufleuten, Gastwirthen, Logis¬
vermiethern, Zeitungsredactcureu, Bankiers, einigen Handwerkern und Sklaven.
Zieht sich die vornehmere Gesellschaft in den ungesunden Monaten August
und September gänzlich aus der Stadt zurück, was oft geschieht, so kann man
sich kaum etwas Leereres und Oederes denken, als die amerikanische Hauptstadt
mit ihren breiten auf eine Bevölkerung von Hunderttausenden berechneten
Straßen. Sie ist dann ein Schiff bei Windstille, eine Oase, der die Brun¬
nen versiegt sind, ein socialer Leichnam.

Aus diesem Zustande erwacht die Stadt allmälig gegen Anfang Decem¬
ber, da der erste Montag in diesem Monat nach der Verfassung den Kongreß
versammelt. Schon einige Wochen vor diesem Zeitpunkte gibt die Stadt
Zeichen, daß sie ausgeschlafen hat: die Hotels öffnen ihre Fensterladen, ganze
Straßen von Boardinghäusern werden für den Winter in Ordnung gebracht,
die Kaufleute vervollständigen ihre Vorräthe und schmücken ihre Schaufenster
mit neuen Moden, und das große verödete Dorf nimmt wieder das Aeußere einer
ziemlich belebten Stadt an. Endlich trifft die Bevölkerung ein, die das
eigentliche Leben von Washington ausmacht. Nach Beginn des neuen Jah¬
res hat dieses Leben seinen Kulminationspunkt erreicht, und jetzt bewegt sich
die heterogenste Gesellschaft durch die Straßen. Innerhalb eines beschränkten
Spielraums begegnet man dem halbwilden Mann der Territorien des fernen We¬
stens, Jndianergcsandtschaften, Mormoncndelegaten, stämmigen Hinterwäldlern,
dem feingebildeten Bostoner, dem „smarten" Sam Stick der Neuenglandstaaten,
dem unternehmenden'Neuyorter, dem ernsten gemessenen Philadclphianer, dem
Cavalier von Virginien und Südcarolina, dem heißblütigen Krcolenpflanzer
von den Ufern des Alabama und den Bayous des Mississippi. Wäre Wash¬
ington eine große Stadt mit einer starken permanenten, von den Zufällig¬
keiten der Wahlen unabhängigen Gesellschaft, so könnte dieser Andrang wider¬
sprechender Elemente von Zeit zu Zeit stattfinden, ohne einen andern Einfluß
zu üben, als den, welchen unsre Messen aus die betreffenden Städte äußern.
Unter den obwaltenden Umständen aber ist der Einfluß der Fremden auf den
Ton der Gesellschaft für letztere ausschlaggebend, und es ist unmöglich, aus
den mannichfaltigen Bildungsstufen, den verschiedenartigen Gewohnheiten, den
widerstrebenden Empfindungen, den entgegengesetzten Meinungen, Absichten
und Neigungen dieses bunt zusammengewürfelten Schwarmes von Gesetzge¬
bern und Parteiführern, Amtsjägern. Glücksrittern und Müßiggängern das


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[0425] lösung des Kongresses zurückbleiben, scheinen keinen andern Beruf zu haben, als den der Hamster und anderer Winterschläfer. Es geht dann ein Etwas durch die Straßen, was sie mit einem Ballsaal oder Clubzimmer nach einer durchschwärmten Nacht vergleichen läßt. Während dieser Ruhezeit besteht die Bevölkerung aus den hohen und niedern Beamten der Bundesregierung, dem diplomatischen Corps, wenig beschäftigten Kaufleuten, Gastwirthen, Logis¬ vermiethern, Zeitungsredactcureu, Bankiers, einigen Handwerkern und Sklaven. Zieht sich die vornehmere Gesellschaft in den ungesunden Monaten August und September gänzlich aus der Stadt zurück, was oft geschieht, so kann man sich kaum etwas Leereres und Oederes denken, als die amerikanische Hauptstadt mit ihren breiten auf eine Bevölkerung von Hunderttausenden berechneten Straßen. Sie ist dann ein Schiff bei Windstille, eine Oase, der die Brun¬ nen versiegt sind, ein socialer Leichnam. Aus diesem Zustande erwacht die Stadt allmälig gegen Anfang Decem¬ ber, da der erste Montag in diesem Monat nach der Verfassung den Kongreß versammelt. Schon einige Wochen vor diesem Zeitpunkte gibt die Stadt Zeichen, daß sie ausgeschlafen hat: die Hotels öffnen ihre Fensterladen, ganze Straßen von Boardinghäusern werden für den Winter in Ordnung gebracht, die Kaufleute vervollständigen ihre Vorräthe und schmücken ihre Schaufenster mit neuen Moden, und das große verödete Dorf nimmt wieder das Aeußere einer ziemlich belebten Stadt an. Endlich trifft die Bevölkerung ein, die das eigentliche Leben von Washington ausmacht. Nach Beginn des neuen Jah¬ res hat dieses Leben seinen Kulminationspunkt erreicht, und jetzt bewegt sich die heterogenste Gesellschaft durch die Straßen. Innerhalb eines beschränkten Spielraums begegnet man dem halbwilden Mann der Territorien des fernen We¬ stens, Jndianergcsandtschaften, Mormoncndelegaten, stämmigen Hinterwäldlern, dem feingebildeten Bostoner, dem „smarten" Sam Stick der Neuenglandstaaten, dem unternehmenden'Neuyorter, dem ernsten gemessenen Philadclphianer, dem Cavalier von Virginien und Südcarolina, dem heißblütigen Krcolenpflanzer von den Ufern des Alabama und den Bayous des Mississippi. Wäre Wash¬ ington eine große Stadt mit einer starken permanenten, von den Zufällig¬ keiten der Wahlen unabhängigen Gesellschaft, so könnte dieser Andrang wider¬ sprechender Elemente von Zeit zu Zeit stattfinden, ohne einen andern Einfluß zu üben, als den, welchen unsre Messen aus die betreffenden Städte äußern. Unter den obwaltenden Umständen aber ist der Einfluß der Fremden auf den Ton der Gesellschaft für letztere ausschlaggebend, und es ist unmöglich, aus den mannichfaltigen Bildungsstufen, den verschiedenartigen Gewohnheiten, den widerstrebenden Empfindungen, den entgegengesetzten Meinungen, Absichten und Neigungen dieses bunt zusammengewürfelten Schwarmes von Gesetzge¬ bern und Parteiführern, Amtsjägern. Glücksrittern und Müßiggängern das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/425>, abgerufen am 19.10.2024.