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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Im Februar ist nun das preußische Volk mit einer neuen Interpretation
der Regulative beschenkt worden. Darin wird der Memorirstoff abermals be¬
schränkt. Der Unterrichtsstoff in der biblischen Geschichte darf von den Regierungen
vermindert werden; das Lernen der Sonntags-Evangelien kann unterbleiben;
den Präparanden werden 6 Psalmen, 20 Kirchenlieder, die messianischen Pro¬
phezeiungen und was früher über die Zahl von 180 Bibelsprüchen gefordert
ist. erlassen. Dafür werden die Leistungen in der Naturkunde gesteigert; es soll
auch die nöthige Anschauung "vermittelt und verwerthet" werden. Es wird
auf der obersten Stufe des Seminars Zeichenunterricht angeordnet; für Rech¬
nen und Raumlehre werden hier drei Stunden, für Repetition der Geographie
und Naturkunde zusammen eine Stunde ausgeworfen. Endlich erhalt der be¬
rühmte Passus über die Privatlectüre die geniale Interpretation: unter clas¬
sischer Literatur sei Dasjenige zu verstehen, "was zu seinem Verständnisse
Kenntnisse und diejenige Bildung verlange, welche durch die sogenannte classische
Bildung erworben würde." Nur dies sei von der Privatlectüre der Semina¬
risten auszuschließen, also beispielsweise die Götter Griechenlands und Iphi-
genie, nicht aber Wilhelm Tel! oder Hermann und Dorothea.

Können wir nun nach allen diesen Aenderungen, die doch sehr viel tiefer
gehen, als Hr. sticht uns glauben machen möchte, die Regulative sür ein
lebensfähiges Gesetz ansehen? Ais ein Gesetz, würdig des preußischen Staats
und der Nachahmung im ganzen Vaterlande? Gott wolle nicht, daß unser
geistiges Leben so tief heruntergekommen sei! Der schwerste Vorwurf, welcher
die Regulative trifft, kann auf solche Art, kann durch sophistische Interpreta¬
tionen nicht herausgebracht werden. Freilich steht manches brauchbare Schlag'
wort darin, ja manches klingt nach den großen Principien Pestalozzi'scher Päda¬
gogik. Aber die schönen Redensarten von der Selbstthätigkeit, die geweckt
werden soll, von dem klaren, sichern Verarbeiten des Gelernten werden durch
den Inhalt der Regulative Lügen gestraft. Daß der Unterricht sichere Kennt¬
nisse überliesere, daß allem Wissen ein Können zur Seite gehen müsse, daß
Niemand zu höhern Stufen übergehen könne, der die niedere noch nicht be¬
wältigt hat -- alles Das weiß jeder strebsame Lehrer auch ohne Regulative;
ebenso hat nie ein vernünftiger Pädagog daran gezweifelt, daß es sehr wichtig
ist, das Gedächtniß zu üben. Aber was in den Regulativen neu war. das
läuft der geistigen Entwickelung des preußischen Volks und den berechtigten
Forderungen unserer Zeit schnurstracks zuwider. Es hilft nichts, sich darüber
Illusionen zu machen: ein Ministerium, das an den Principien der Regulative
festhält, bricht sich dadurch selbst den Stab. Die preußische Verfassung weist
den Religionsunterricht der betreffenden Kirche zu und stellt damit die Schule
außerhalb des Gegensatzes der Bekenntnisse: die Regulative legen das
Joch engherzigster Dogmengläubigkeit der Volksschule aus den Nacken. I"'


Im Februar ist nun das preußische Volk mit einer neuen Interpretation
der Regulative beschenkt worden. Darin wird der Memorirstoff abermals be¬
schränkt. Der Unterrichtsstoff in der biblischen Geschichte darf von den Regierungen
vermindert werden; das Lernen der Sonntags-Evangelien kann unterbleiben;
den Präparanden werden 6 Psalmen, 20 Kirchenlieder, die messianischen Pro¬
phezeiungen und was früher über die Zahl von 180 Bibelsprüchen gefordert
ist. erlassen. Dafür werden die Leistungen in der Naturkunde gesteigert; es soll
auch die nöthige Anschauung „vermittelt und verwerthet" werden. Es wird
auf der obersten Stufe des Seminars Zeichenunterricht angeordnet; für Rech¬
nen und Raumlehre werden hier drei Stunden, für Repetition der Geographie
und Naturkunde zusammen eine Stunde ausgeworfen. Endlich erhalt der be¬
rühmte Passus über die Privatlectüre die geniale Interpretation: unter clas¬
sischer Literatur sei Dasjenige zu verstehen, „was zu seinem Verständnisse
Kenntnisse und diejenige Bildung verlange, welche durch die sogenannte classische
Bildung erworben würde." Nur dies sei von der Privatlectüre der Semina¬
risten auszuschließen, also beispielsweise die Götter Griechenlands und Iphi-
genie, nicht aber Wilhelm Tel! oder Hermann und Dorothea.

Können wir nun nach allen diesen Aenderungen, die doch sehr viel tiefer
gehen, als Hr. sticht uns glauben machen möchte, die Regulative sür ein
lebensfähiges Gesetz ansehen? Ais ein Gesetz, würdig des preußischen Staats
und der Nachahmung im ganzen Vaterlande? Gott wolle nicht, daß unser
geistiges Leben so tief heruntergekommen sei! Der schwerste Vorwurf, welcher
die Regulative trifft, kann auf solche Art, kann durch sophistische Interpreta¬
tionen nicht herausgebracht werden. Freilich steht manches brauchbare Schlag'
wort darin, ja manches klingt nach den großen Principien Pestalozzi'scher Päda¬
gogik. Aber die schönen Redensarten von der Selbstthätigkeit, die geweckt
werden soll, von dem klaren, sichern Verarbeiten des Gelernten werden durch
den Inhalt der Regulative Lügen gestraft. Daß der Unterricht sichere Kennt¬
nisse überliesere, daß allem Wissen ein Können zur Seite gehen müsse, daß
Niemand zu höhern Stufen übergehen könne, der die niedere noch nicht be¬
wältigt hat — alles Das weiß jeder strebsame Lehrer auch ohne Regulative;
ebenso hat nie ein vernünftiger Pädagog daran gezweifelt, daß es sehr wichtig
ist, das Gedächtniß zu üben. Aber was in den Regulativen neu war. das
läuft der geistigen Entwickelung des preußischen Volks und den berechtigten
Forderungen unserer Zeit schnurstracks zuwider. Es hilft nichts, sich darüber
Illusionen zu machen: ein Ministerium, das an den Principien der Regulative
festhält, bricht sich dadurch selbst den Stab. Die preußische Verfassung weist
den Religionsunterricht der betreffenden Kirche zu und stellt damit die Schule
außerhalb des Gegensatzes der Bekenntnisse: die Regulative legen das
Joch engherzigster Dogmengläubigkeit der Volksschule aus den Nacken. I"'


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[0362] Im Februar ist nun das preußische Volk mit einer neuen Interpretation der Regulative beschenkt worden. Darin wird der Memorirstoff abermals be¬ schränkt. Der Unterrichtsstoff in der biblischen Geschichte darf von den Regierungen vermindert werden; das Lernen der Sonntags-Evangelien kann unterbleiben; den Präparanden werden 6 Psalmen, 20 Kirchenlieder, die messianischen Pro¬ phezeiungen und was früher über die Zahl von 180 Bibelsprüchen gefordert ist. erlassen. Dafür werden die Leistungen in der Naturkunde gesteigert; es soll auch die nöthige Anschauung „vermittelt und verwerthet" werden. Es wird auf der obersten Stufe des Seminars Zeichenunterricht angeordnet; für Rech¬ nen und Raumlehre werden hier drei Stunden, für Repetition der Geographie und Naturkunde zusammen eine Stunde ausgeworfen. Endlich erhalt der be¬ rühmte Passus über die Privatlectüre die geniale Interpretation: unter clas¬ sischer Literatur sei Dasjenige zu verstehen, „was zu seinem Verständnisse Kenntnisse und diejenige Bildung verlange, welche durch die sogenannte classische Bildung erworben würde." Nur dies sei von der Privatlectüre der Semina¬ risten auszuschließen, also beispielsweise die Götter Griechenlands und Iphi- genie, nicht aber Wilhelm Tel! oder Hermann und Dorothea. Können wir nun nach allen diesen Aenderungen, die doch sehr viel tiefer gehen, als Hr. sticht uns glauben machen möchte, die Regulative sür ein lebensfähiges Gesetz ansehen? Ais ein Gesetz, würdig des preußischen Staats und der Nachahmung im ganzen Vaterlande? Gott wolle nicht, daß unser geistiges Leben so tief heruntergekommen sei! Der schwerste Vorwurf, welcher die Regulative trifft, kann auf solche Art, kann durch sophistische Interpreta¬ tionen nicht herausgebracht werden. Freilich steht manches brauchbare Schlag' wort darin, ja manches klingt nach den großen Principien Pestalozzi'scher Päda¬ gogik. Aber die schönen Redensarten von der Selbstthätigkeit, die geweckt werden soll, von dem klaren, sichern Verarbeiten des Gelernten werden durch den Inhalt der Regulative Lügen gestraft. Daß der Unterricht sichere Kennt¬ nisse überliesere, daß allem Wissen ein Können zur Seite gehen müsse, daß Niemand zu höhern Stufen übergehen könne, der die niedere noch nicht be¬ wältigt hat — alles Das weiß jeder strebsame Lehrer auch ohne Regulative; ebenso hat nie ein vernünftiger Pädagog daran gezweifelt, daß es sehr wichtig ist, das Gedächtniß zu üben. Aber was in den Regulativen neu war. das läuft der geistigen Entwickelung des preußischen Volks und den berechtigten Forderungen unserer Zeit schnurstracks zuwider. Es hilft nichts, sich darüber Illusionen zu machen: ein Ministerium, das an den Principien der Regulative festhält, bricht sich dadurch selbst den Stab. Die preußische Verfassung weist den Religionsunterricht der betreffenden Kirche zu und stellt damit die Schule außerhalb des Gegensatzes der Bekenntnisse: die Regulative legen das Joch engherzigster Dogmengläubigkeit der Volksschule aus den Nacken. I"'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/362>, abgerufen am 02.07.2024.