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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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der Feder von Schulräthen, welche wegen ihrer ganzen Richtung vom Mini¬
sterium Raumer auserkoren waren, die Regulative durchzuführen, und seit dem
Tode des seligen Münchhausen ist die Kunst verloren gegangen, sich am eignen
Zopfe aus dem Sumpfe zu ziehen. Auch gibt es leider genug Schulen, in
denen die lächerlich geringen Forderungen der Regulative schon einen Fortschritt
gegen frühere Leistungen herbeiführen konnten, wahrend andererseits eine gewisse
Richtung da echte Frömmigkeit erblickt, wo Glaubensbekenntnisse, Bibclverse
oder fromme Redensarten aus dem Gesangbuche gedächtnißmäßig hergebctet
werden. Daß man endlich mit den Principien der Raumer'sehen Verwaltung
nicht brechen wollte, zeigte sich deutlich; wie hatten sonst alle früheren Räthe
auch nach dem Ende der zehnjährigen Corruptions-Periode, und gerade die
gefügigsten Werkzeuge der Raumer'schen Verwaltung die Leitung des Schul-
Wesens in ihren Händen behalten können? Und trotzdem sah man sich ge¬
nöthigt, die Bestimmungen der Regulative sehr wesentlich zu ändern. Schon
im Jahre 1859 wurden aus dem Memorirstvff die Sonntags-Episteln aus¬
drücklich ausgeschlossen; so blieben nur noch 66 Evangelien übrig. -- Es
wurde bestimmt, die Lehrer sollten die Erzählungen der biblischen Geschichte
nicht geradezu auswendig lernen lassen -- dock wurde daran festgehalten,
daß die Kinder befähigt werden müßten, die Historien "im engen Anschluß
an die volksthümliche Sprache der lutherischen Bibelübersetzung selbstän¬
dig wiederzuerzählen." -- Dafür wurden auf den andern Gebieten die
Forderungen gesteigert; Verhältnißrechnung und Decimalbrüche wurden nicht
nur zugelassen, sondern angeordnet; die Naturkunde sollte die elementare
Lehre der Chemie umfassen; Vaterlands- und Naturkunde wurden überall
ein stehender Unterrichtsgegenstand, wo die Verhältnisse 30 wöchentliche
Schulstunden gestatteten. Auch die Bestimmungen über die Privatlectüre
der Seminaristen klangen jetzt aus einen wesentlich andern Ton. In euiem aus¬
führlichen Erlasse überrascht Hr. v. Bethmann-Hollweg die Welt mit der Er¬
zählung, beim Besuche eines Seminars sei ihm eine Auseinandersetzung des
Inhalts von Hermann und Dorothea von den Seminaristen vorgetragen und
ihm der erfreuliche Beweis geliefert worden, daß "die künftigen Lehrer des Volks in
die reichen Schätze unserer volksthümlichen Literatur eingeführt würden." Das
überraschte; denn man hat bisher bekanntlich Göthe in- die "sogenante classi¬
sche Literatur," keineswegs aber in die Reihe derjenigen Schriftsteller gezählt,
welche die Regulative ausdrücklich empfohlen hatten, z. B. Wildenhahn, Pizer
Hin'n. Ahlfeld, Stöber, Barth, Hahn, Jahr, und die allerdings von keinem
vernünftigen Menschen zu den deutschen Klassikern gezählt werden. Indessen
^ lag nahe genug, diese und manche andere Behauptung jenes Erlasses zu
^'klären. Man wußte ja, der Herr Geheimrath sticht hatte den Minister auf
seiner Inspectionsreise begleitet.


der Feder von Schulräthen, welche wegen ihrer ganzen Richtung vom Mini¬
sterium Raumer auserkoren waren, die Regulative durchzuführen, und seit dem
Tode des seligen Münchhausen ist die Kunst verloren gegangen, sich am eignen
Zopfe aus dem Sumpfe zu ziehen. Auch gibt es leider genug Schulen, in
denen die lächerlich geringen Forderungen der Regulative schon einen Fortschritt
gegen frühere Leistungen herbeiführen konnten, wahrend andererseits eine gewisse
Richtung da echte Frömmigkeit erblickt, wo Glaubensbekenntnisse, Bibclverse
oder fromme Redensarten aus dem Gesangbuche gedächtnißmäßig hergebctet
werden. Daß man endlich mit den Principien der Raumer'sehen Verwaltung
nicht brechen wollte, zeigte sich deutlich; wie hatten sonst alle früheren Räthe
auch nach dem Ende der zehnjährigen Corruptions-Periode, und gerade die
gefügigsten Werkzeuge der Raumer'schen Verwaltung die Leitung des Schul-
Wesens in ihren Händen behalten können? Und trotzdem sah man sich ge¬
nöthigt, die Bestimmungen der Regulative sehr wesentlich zu ändern. Schon
im Jahre 1859 wurden aus dem Memorirstvff die Sonntags-Episteln aus¬
drücklich ausgeschlossen; so blieben nur noch 66 Evangelien übrig. — Es
wurde bestimmt, die Lehrer sollten die Erzählungen der biblischen Geschichte
nicht geradezu auswendig lernen lassen — dock wurde daran festgehalten,
daß die Kinder befähigt werden müßten, die Historien „im engen Anschluß
an die volksthümliche Sprache der lutherischen Bibelübersetzung selbstän¬
dig wiederzuerzählen." — Dafür wurden auf den andern Gebieten die
Forderungen gesteigert; Verhältnißrechnung und Decimalbrüche wurden nicht
nur zugelassen, sondern angeordnet; die Naturkunde sollte die elementare
Lehre der Chemie umfassen; Vaterlands- und Naturkunde wurden überall
ein stehender Unterrichtsgegenstand, wo die Verhältnisse 30 wöchentliche
Schulstunden gestatteten. Auch die Bestimmungen über die Privatlectüre
der Seminaristen klangen jetzt aus einen wesentlich andern Ton. In euiem aus¬
führlichen Erlasse überrascht Hr. v. Bethmann-Hollweg die Welt mit der Er¬
zählung, beim Besuche eines Seminars sei ihm eine Auseinandersetzung des
Inhalts von Hermann und Dorothea von den Seminaristen vorgetragen und
ihm der erfreuliche Beweis geliefert worden, daß „die künftigen Lehrer des Volks in
die reichen Schätze unserer volksthümlichen Literatur eingeführt würden." Das
überraschte; denn man hat bisher bekanntlich Göthe in- die „sogenante classi¬
sche Literatur," keineswegs aber in die Reihe derjenigen Schriftsteller gezählt,
welche die Regulative ausdrücklich empfohlen hatten, z. B. Wildenhahn, Pizer
Hin'n. Ahlfeld, Stöber, Barth, Hahn, Jahr, und die allerdings von keinem
vernünftigen Menschen zu den deutschen Klassikern gezählt werden. Indessen
^ lag nahe genug, diese und manche andere Behauptung jenes Erlasses zu
^'klären. Man wußte ja, der Herr Geheimrath sticht hatte den Minister auf
seiner Inspectionsreise begleitet.


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[0361] der Feder von Schulräthen, welche wegen ihrer ganzen Richtung vom Mini¬ sterium Raumer auserkoren waren, die Regulative durchzuführen, und seit dem Tode des seligen Münchhausen ist die Kunst verloren gegangen, sich am eignen Zopfe aus dem Sumpfe zu ziehen. Auch gibt es leider genug Schulen, in denen die lächerlich geringen Forderungen der Regulative schon einen Fortschritt gegen frühere Leistungen herbeiführen konnten, wahrend andererseits eine gewisse Richtung da echte Frömmigkeit erblickt, wo Glaubensbekenntnisse, Bibclverse oder fromme Redensarten aus dem Gesangbuche gedächtnißmäßig hergebctet werden. Daß man endlich mit den Principien der Raumer'sehen Verwaltung nicht brechen wollte, zeigte sich deutlich; wie hatten sonst alle früheren Räthe auch nach dem Ende der zehnjährigen Corruptions-Periode, und gerade die gefügigsten Werkzeuge der Raumer'schen Verwaltung die Leitung des Schul- Wesens in ihren Händen behalten können? Und trotzdem sah man sich ge¬ nöthigt, die Bestimmungen der Regulative sehr wesentlich zu ändern. Schon im Jahre 1859 wurden aus dem Memorirstvff die Sonntags-Episteln aus¬ drücklich ausgeschlossen; so blieben nur noch 66 Evangelien übrig. — Es wurde bestimmt, die Lehrer sollten die Erzählungen der biblischen Geschichte nicht geradezu auswendig lernen lassen — dock wurde daran festgehalten, daß die Kinder befähigt werden müßten, die Historien „im engen Anschluß an die volksthümliche Sprache der lutherischen Bibelübersetzung selbstän¬ dig wiederzuerzählen." — Dafür wurden auf den andern Gebieten die Forderungen gesteigert; Verhältnißrechnung und Decimalbrüche wurden nicht nur zugelassen, sondern angeordnet; die Naturkunde sollte die elementare Lehre der Chemie umfassen; Vaterlands- und Naturkunde wurden überall ein stehender Unterrichtsgegenstand, wo die Verhältnisse 30 wöchentliche Schulstunden gestatteten. Auch die Bestimmungen über die Privatlectüre der Seminaristen klangen jetzt aus einen wesentlich andern Ton. In euiem aus¬ führlichen Erlasse überrascht Hr. v. Bethmann-Hollweg die Welt mit der Er¬ zählung, beim Besuche eines Seminars sei ihm eine Auseinandersetzung des Inhalts von Hermann und Dorothea von den Seminaristen vorgetragen und ihm der erfreuliche Beweis geliefert worden, daß „die künftigen Lehrer des Volks in die reichen Schätze unserer volksthümlichen Literatur eingeführt würden." Das überraschte; denn man hat bisher bekanntlich Göthe in- die „sogenante classi¬ sche Literatur," keineswegs aber in die Reihe derjenigen Schriftsteller gezählt, welche die Regulative ausdrücklich empfohlen hatten, z. B. Wildenhahn, Pizer Hin'n. Ahlfeld, Stöber, Barth, Hahn, Jahr, und die allerdings von keinem vernünftigen Menschen zu den deutschen Klassikern gezählt werden. Indessen ^ lag nahe genug, diese und manche andere Behauptung jenes Erlasses zu ^'klären. Man wußte ja, der Herr Geheimrath sticht hatte den Minister auf seiner Inspectionsreise begleitet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/361>, abgerufen am 02.07.2024.