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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Lehrcrstande lebt die Begeisterung für freie auf sich selbst gestellte Men¬
schenbildung: die Regulative wollen ausdrücklich diese humane Bildung
nicht und beugen sie unter die Satzungen der Kirche. Die Nation sucht
wahre Frömmigkeit immer mehr auf dem Gebiete des sittlichen Lebens und
lernt von der Wissenschaft die Thatsachen der heiligen Ueberlieferung in die
geschichtliche Entwickelung einreihen: die Regulative erheben zu ihrem Götzen
den Wortlaut dieser Ueberlieferung, den Buchstaben eines Katechismus, den
nicht einmal Luther als ein Lehrbuch des Glaubens angesehen wissen wollte.
In der unwürdigsten Weise wird einem der wichtigsten Stände, den die mensch¬
liche Gesellschaft enthält, bis in's Kleinste genau vorgezeichnet, was er aus-
wendig wissen, was er lernen, was er lesen soll. In dem ganzen Gesetze ist
keine Spur jener wahren Liberalität, welche überall möglichst viel Freiheit läßt,
weil sie weiß, daß es auf geistigem Gebiet keine segensreiche Arbeit gibt,
als die von freier Lust und Liebe getragen wird. Statt dessen macht man
ausdrücklich den Werth eines Lehrers davon abhängig, wie derselbe beten
kann; seine Leistungen werdeu nicht nach ihrem Erfolg, sondern nach seiner
Patriotischen und religiösen Gesinnung gemessen -- ein Grundsatz, der noch
nie etwas Anderes gezogen hat als Heuchler. Es ist richtig, die Masse des
Memorirstoffs ist jetzt an sich nicht mehr so groß, daß sie die Kräfte eines
Lehrers oder Schulkindes überstiege -- aber viel schlimmer ist, daß der
gedächtnißmäßigen Aneignung fertiger Resultate überhaupt der Vorzug gegeben
ist vor der Arbeit tief eindringenden Denkens; daß das Ziel der Lehrerbildung
für erreicht erklärt wird, wenn der Lehrer ebensoviel weiß, als seine Schüler.
Wem es Ernst ist mit seinem religiösen Glauben, der kann weder von sich
noch von einem Andern verlangen, daß die Ueberzeugung übereinstimme mit
einem Dogma; wer die wahre Weise geschichtlicher Studien zu würdigen ver¬
mag, der wird nicht in ausgeschnittenen Lappen der brandcnburgisch-preußischen
Geschichte eine Theodicee erblicken, welche die Bekanntschaft mit der allgemeinen
Weltgeschichte überflüssig machte. Für die Naturwissenschaft unsrer Tage
un Sinne der Regulative religiöse Haltung und Richtung zu fordern, ist so naiv,
daß darüber kein Wort zu verlieren ist. Wahrhaftig, es ist eine große Gnade, daß
der Herr Minister den angehenden Volksschullehrern erlaubt hat, Regel de tri zu
rechnen, Wurzeln auszuziehen, Hermann und Dorothea zu lesen, vielleicht
sogar Nnthan den Weisen -- denn die neueste Interpretation schließt ja auch
den nicht aus. Allein mit den Principien einer Verfassung, welche die
Wissenschaft und ihre Lehre für frei erklärt, vertragen sich die Regulative trotz
alledem und alledem noch lange nicht. Sie hemmen das geistige Leben des
preußischen Volks, sie rauben uns die Achtung des übrigen Deutschlands, sie
"wehen sich um Niemand verdient als um eine noch immer hochmüthige


Grenzboten II. 1361. 45

Lehrcrstande lebt die Begeisterung für freie auf sich selbst gestellte Men¬
schenbildung: die Regulative wollen ausdrücklich diese humane Bildung
nicht und beugen sie unter die Satzungen der Kirche. Die Nation sucht
wahre Frömmigkeit immer mehr auf dem Gebiete des sittlichen Lebens und
lernt von der Wissenschaft die Thatsachen der heiligen Ueberlieferung in die
geschichtliche Entwickelung einreihen: die Regulative erheben zu ihrem Götzen
den Wortlaut dieser Ueberlieferung, den Buchstaben eines Katechismus, den
nicht einmal Luther als ein Lehrbuch des Glaubens angesehen wissen wollte.
In der unwürdigsten Weise wird einem der wichtigsten Stände, den die mensch¬
liche Gesellschaft enthält, bis in's Kleinste genau vorgezeichnet, was er aus-
wendig wissen, was er lernen, was er lesen soll. In dem ganzen Gesetze ist
keine Spur jener wahren Liberalität, welche überall möglichst viel Freiheit läßt,
weil sie weiß, daß es auf geistigem Gebiet keine segensreiche Arbeit gibt,
als die von freier Lust und Liebe getragen wird. Statt dessen macht man
ausdrücklich den Werth eines Lehrers davon abhängig, wie derselbe beten
kann; seine Leistungen werdeu nicht nach ihrem Erfolg, sondern nach seiner
Patriotischen und religiösen Gesinnung gemessen — ein Grundsatz, der noch
nie etwas Anderes gezogen hat als Heuchler. Es ist richtig, die Masse des
Memorirstoffs ist jetzt an sich nicht mehr so groß, daß sie die Kräfte eines
Lehrers oder Schulkindes überstiege — aber viel schlimmer ist, daß der
gedächtnißmäßigen Aneignung fertiger Resultate überhaupt der Vorzug gegeben
ist vor der Arbeit tief eindringenden Denkens; daß das Ziel der Lehrerbildung
für erreicht erklärt wird, wenn der Lehrer ebensoviel weiß, als seine Schüler.
Wem es Ernst ist mit seinem religiösen Glauben, der kann weder von sich
noch von einem Andern verlangen, daß die Ueberzeugung übereinstimme mit
einem Dogma; wer die wahre Weise geschichtlicher Studien zu würdigen ver¬
mag, der wird nicht in ausgeschnittenen Lappen der brandcnburgisch-preußischen
Geschichte eine Theodicee erblicken, welche die Bekanntschaft mit der allgemeinen
Weltgeschichte überflüssig machte. Für die Naturwissenschaft unsrer Tage
un Sinne der Regulative religiöse Haltung und Richtung zu fordern, ist so naiv,
daß darüber kein Wort zu verlieren ist. Wahrhaftig, es ist eine große Gnade, daß
der Herr Minister den angehenden Volksschullehrern erlaubt hat, Regel de tri zu
rechnen, Wurzeln auszuziehen, Hermann und Dorothea zu lesen, vielleicht
sogar Nnthan den Weisen — denn die neueste Interpretation schließt ja auch
den nicht aus. Allein mit den Principien einer Verfassung, welche die
Wissenschaft und ihre Lehre für frei erklärt, vertragen sich die Regulative trotz
alledem und alledem noch lange nicht. Sie hemmen das geistige Leben des
preußischen Volks, sie rauben uns die Achtung des übrigen Deutschlands, sie
"wehen sich um Niemand verdient als um eine noch immer hochmüthige


Grenzboten II. 1361. 45
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[0363] Lehrcrstande lebt die Begeisterung für freie auf sich selbst gestellte Men¬ schenbildung: die Regulative wollen ausdrücklich diese humane Bildung nicht und beugen sie unter die Satzungen der Kirche. Die Nation sucht wahre Frömmigkeit immer mehr auf dem Gebiete des sittlichen Lebens und lernt von der Wissenschaft die Thatsachen der heiligen Ueberlieferung in die geschichtliche Entwickelung einreihen: die Regulative erheben zu ihrem Götzen den Wortlaut dieser Ueberlieferung, den Buchstaben eines Katechismus, den nicht einmal Luther als ein Lehrbuch des Glaubens angesehen wissen wollte. In der unwürdigsten Weise wird einem der wichtigsten Stände, den die mensch¬ liche Gesellschaft enthält, bis in's Kleinste genau vorgezeichnet, was er aus- wendig wissen, was er lernen, was er lesen soll. In dem ganzen Gesetze ist keine Spur jener wahren Liberalität, welche überall möglichst viel Freiheit läßt, weil sie weiß, daß es auf geistigem Gebiet keine segensreiche Arbeit gibt, als die von freier Lust und Liebe getragen wird. Statt dessen macht man ausdrücklich den Werth eines Lehrers davon abhängig, wie derselbe beten kann; seine Leistungen werdeu nicht nach ihrem Erfolg, sondern nach seiner Patriotischen und religiösen Gesinnung gemessen — ein Grundsatz, der noch nie etwas Anderes gezogen hat als Heuchler. Es ist richtig, die Masse des Memorirstoffs ist jetzt an sich nicht mehr so groß, daß sie die Kräfte eines Lehrers oder Schulkindes überstiege — aber viel schlimmer ist, daß der gedächtnißmäßigen Aneignung fertiger Resultate überhaupt der Vorzug gegeben ist vor der Arbeit tief eindringenden Denkens; daß das Ziel der Lehrerbildung für erreicht erklärt wird, wenn der Lehrer ebensoviel weiß, als seine Schüler. Wem es Ernst ist mit seinem religiösen Glauben, der kann weder von sich noch von einem Andern verlangen, daß die Ueberzeugung übereinstimme mit einem Dogma; wer die wahre Weise geschichtlicher Studien zu würdigen ver¬ mag, der wird nicht in ausgeschnittenen Lappen der brandcnburgisch-preußischen Geschichte eine Theodicee erblicken, welche die Bekanntschaft mit der allgemeinen Weltgeschichte überflüssig machte. Für die Naturwissenschaft unsrer Tage un Sinne der Regulative religiöse Haltung und Richtung zu fordern, ist so naiv, daß darüber kein Wort zu verlieren ist. Wahrhaftig, es ist eine große Gnade, daß der Herr Minister den angehenden Volksschullehrern erlaubt hat, Regel de tri zu rechnen, Wurzeln auszuziehen, Hermann und Dorothea zu lesen, vielleicht sogar Nnthan den Weisen — denn die neueste Interpretation schließt ja auch den nicht aus. Allein mit den Principien einer Verfassung, welche die Wissenschaft und ihre Lehre für frei erklärt, vertragen sich die Regulative trotz alledem und alledem noch lange nicht. Sie hemmen das geistige Leben des preußischen Volks, sie rauben uns die Achtung des übrigen Deutschlands, sie "wehen sich um Niemand verdient als um eine noch immer hochmüthige Grenzboten II. 1361. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/363>, abgerufen am 01.07.2024.