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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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sähen der französischen Revolution überkommen hat. Es trägt den Mangel an sich,
daß es eher sondert als vereint: der Trieb der Freiheit hat keine zusammen schmel¬
zende, sondern eine auflösende Kraft, In neuester Zeit ist es also durch einen In¬
stinkt ergänzt worden, der im Stillen schon seit Jahrhunderten gewaltet, setzt aber
erst den Ausdruck gefunden hat: durch den Instinkt, daß die Staaten weder ein
Vontraet, social beliebiger Individuen, noch ein bloßer Privatbesitz der Fürsten sein
können, daß ein Staat nur lebendig bleibt, wenn er auch ein Volk umfaßt; daß
auf die Dauer nur die Nationalstaaten Bestand haben. Wir wissen sehr wol,
daß der Befriedigung dieses Instinktes in vielen Gegenden Europas, namentlich im
Osten, gewaltige Hindernisse im Wege stehen; daß nicht jeder Instinkt eine Bürg¬
schaft seiner Befriedigung in sich trägt. Aber er ist vorhanden, er ist mächtig, er
hat bereits sehr erhebliche Erfolge errungen, er wächst mit Nicscnschnelle von Jahr
zu Jahr, und nicht jedes Hinderniß, das auf dem Papier gefährlich aussieht, ist des¬
halb unüberwindlich.

Folgende Nutzanwendung haben wir machen wollen. Wie soll sich ein weiser
Fürst, der seinen Staat nicht als einen Privatbesitz betrachtet, sondern als ein
seiner Treue anvertrautes Pfand, mit dem er zu wuchern berufen ist -- wie soll
sich ein solcher Fürst dieser Bewegung gegenüber verhalten? die er nicht ignoriren
kann, die er entweder bekämpfen oder fördern muß; -- dieser Bewegung gegenüber,
die theils auf größere Geltung des freien menschlichen Individuums geht, theils
auf Zusammenschmelzen dessen, was zusammen gehört, und auf Scheidung dessen, was
nicht zusammen gehört.

Wir wollen Italien, Frankreich. Spanien u. s. w., die für sich selbst sprechen,
ganz bei Seite lassen, und nur auf Oestreich hinweisen. Die preußische Regierung,
die praktisch sich nicht selten von Oestreich gängeln läßt, pflegt theoretisch auf den
weniger cultivirten Nachbarstaat herab zu sehen. Hier sollte Preußen wenigstens soviel
einsehen, daß Oestreich den Ernst der Lage nicht verkennt. Aus die liberalen Redens¬
arten in der östreichischen Thronrede geben wir nicht viel, obgleich immer noch mehr
als auf die Redensarten der östreichischen "Liberalen", die kaum losgebunden, auf ein¬
mal viel kaiserlicher sind als der Kaiser selbst, und aufs Heftigste in die kaiserliche
Regierung dringen, die Ccntralisationsplüne des Fürsten Schwarzcnbrrg gegen Ungarn
M neuer Form wieder aufzunehmen. Die kaiserliche Regierung versucht, bei den
schwierigen Umständen, die man fast unmöglich nennen kann, dem neuen Geist nach
den beiden Hauptmomenten hin soviel als möglich Rechnung zu tragen. Sie macht
den Nationen die großartigsten Zugeständnisse, sie verspricht auch für die freiheitliche
Entwickelung allerlei. Sie macht, wird man einwenden, diese Zugeständnisse nnr im
Drang des Augenblicks, sie wird sie zurücknehmen, sobald sie irgend Luft bekommt.
-- Einerlei! sie beim Wort zu halten, sie zu ihrem eigenen Heil beim Wort zu
halten, das ist nachher die Sache der Völker, Die Negierung kann für jetzt nichts
Weiter als ihren guten Willen zeigen, denn es könnte ein Engel vom Himmel
kommen: dies Chaos von widersprechenden Wünschen würde er doch durch ein Macht-
Wort nicht lösen können.


sähen der französischen Revolution überkommen hat. Es trägt den Mangel an sich,
daß es eher sondert als vereint: der Trieb der Freiheit hat keine zusammen schmel¬
zende, sondern eine auflösende Kraft, In neuester Zeit ist es also durch einen In¬
stinkt ergänzt worden, der im Stillen schon seit Jahrhunderten gewaltet, setzt aber
erst den Ausdruck gefunden hat: durch den Instinkt, daß die Staaten weder ein
Vontraet, social beliebiger Individuen, noch ein bloßer Privatbesitz der Fürsten sein
können, daß ein Staat nur lebendig bleibt, wenn er auch ein Volk umfaßt; daß
auf die Dauer nur die Nationalstaaten Bestand haben. Wir wissen sehr wol,
daß der Befriedigung dieses Instinktes in vielen Gegenden Europas, namentlich im
Osten, gewaltige Hindernisse im Wege stehen; daß nicht jeder Instinkt eine Bürg¬
schaft seiner Befriedigung in sich trägt. Aber er ist vorhanden, er ist mächtig, er
hat bereits sehr erhebliche Erfolge errungen, er wächst mit Nicscnschnelle von Jahr
zu Jahr, und nicht jedes Hinderniß, das auf dem Papier gefährlich aussieht, ist des¬
halb unüberwindlich.

Folgende Nutzanwendung haben wir machen wollen. Wie soll sich ein weiser
Fürst, der seinen Staat nicht als einen Privatbesitz betrachtet, sondern als ein
seiner Treue anvertrautes Pfand, mit dem er zu wuchern berufen ist — wie soll
sich ein solcher Fürst dieser Bewegung gegenüber verhalten? die er nicht ignoriren
kann, die er entweder bekämpfen oder fördern muß; — dieser Bewegung gegenüber,
die theils auf größere Geltung des freien menschlichen Individuums geht, theils
auf Zusammenschmelzen dessen, was zusammen gehört, und auf Scheidung dessen, was
nicht zusammen gehört.

Wir wollen Italien, Frankreich. Spanien u. s. w., die für sich selbst sprechen,
ganz bei Seite lassen, und nur auf Oestreich hinweisen. Die preußische Regierung,
die praktisch sich nicht selten von Oestreich gängeln läßt, pflegt theoretisch auf den
weniger cultivirten Nachbarstaat herab zu sehen. Hier sollte Preußen wenigstens soviel
einsehen, daß Oestreich den Ernst der Lage nicht verkennt. Aus die liberalen Redens¬
arten in der östreichischen Thronrede geben wir nicht viel, obgleich immer noch mehr
als auf die Redensarten der östreichischen „Liberalen", die kaum losgebunden, auf ein¬
mal viel kaiserlicher sind als der Kaiser selbst, und aufs Heftigste in die kaiserliche
Regierung dringen, die Ccntralisationsplüne des Fürsten Schwarzcnbrrg gegen Ungarn
M neuer Form wieder aufzunehmen. Die kaiserliche Regierung versucht, bei den
schwierigen Umständen, die man fast unmöglich nennen kann, dem neuen Geist nach
den beiden Hauptmomenten hin soviel als möglich Rechnung zu tragen. Sie macht
den Nationen die großartigsten Zugeständnisse, sie verspricht auch für die freiheitliche
Entwickelung allerlei. Sie macht, wird man einwenden, diese Zugeständnisse nnr im
Drang des Augenblicks, sie wird sie zurücknehmen, sobald sie irgend Luft bekommt.
— Einerlei! sie beim Wort zu halten, sie zu ihrem eigenen Heil beim Wort zu
halten, das ist nachher die Sache der Völker, Die Negierung kann für jetzt nichts
Weiter als ihren guten Willen zeigen, denn es könnte ein Engel vom Himmel
kommen: dies Chaos von widersprechenden Wünschen würde er doch durch ein Macht-
Wort nicht lösen können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/289>, abgerufen am 22.07.2024.