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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Vielleicht ist der eigene Sohn, der ihm schweigend mit niedergeschlagenen
Augen zuhört, sein Spion, sein Verräther, -- nicht aus Schlechtigkeit des
Herzens, sondern aus abgöttischen und fanatischem Gehorsam gegen die stärkere
Gewalt des Staats. Noch mehr als das; man ist auch verantwortlich für
das, was Andere thun. Für das Verbrechen, welches in einer Straße verübt
wird, sind sämmtliche Bewohner derselben verantwortlich, und so ist Jeder,
wenn nicht Spion aus Beruf und Pflicht, so doch aus Interesse. Fast die
einzige gemeinsame Strafe sür alle Vergehen ist der Tod; wer mehr als eines
halben Thalers Werth stiehlt, ist dem Strange verfallen.

Ueber die Wirkungen einer solchen drakonischen Gesetzgebung ist vielfach
geschrieben und gestritten worden. Ich muß gestehen, daß ich früher eine reale
Durchführung derselben für ein Phantasiestück gehalten habe; doch habe ich
mich in Japan vom Gegentheile überzeugt; sie ist hier in der That bis in's
kleinste Detail hinein ausgearbeitet und eine bewundernswürdige Wahrheit;
wenn sie Verbrechen nicht absolut verhüten kann, so macht sie dieselben doch
augenscheinlich selten, -- der Diebstahl ist fast unbekannt. Ich habe mich von
der Möglichkeit des Systems überzeugt, aber zugleich haben sich meine Ideen
überedie Verwerflichkeit desselben durch, ein praktisches Beispiel und durch den
Augenschein befestigt, so sehr auch Anfangs die erzielte Sicherheit des Eigen¬
thums mein Auge bestechen mochte. Ich glaube, daß sich das System we¬
der aus materiell staatswirthschaftlichen noch aus rein menschlichen, moralischen
Rücksichten empfiehlt. Die Anstalten, welche der Staat treffen muß, um das
Verbrechen zu verhüten, sind weit großartiger und kostspieliger, als unser Ver¬
fahren, dieselben geschehen zu lassen und dann zu richten und zu strafen; ganz
verhütet können sie doch nicht werden und richterliche Organe sind niemals zu
entbehren. Dieser Zustand der Sicherheit wird außerdem mit zu vielen Opfern
der persönlichen Freiheit erkauft. Das ganze Heer der Bestimmungen, welche
die Sicherung des Eigenthums präventiv bezwecken, ist zugleich ein Hemmschuh
für die Freiheit der Bewegung; sie schützen den Einzelnen unvollkommen vor
dem Verlust und schneiden ihm die Möglichkeit des Gewinns ab. Tausend
Dinge, die er sonst thun könnte, die zur fortschreitenden Bereicherung seines
Vermögens führen würden, muß er nun unterlassen. Der Effect ist Still¬
stand.

Das Schlimmste aber liegt darin, daß dies System den Menschen nicht
bessert, da es ihn als unvernünftiges Wesen voraussetzt, dem die Einsicht >"
die Erfordernisse des gesellschaftlichen Organismus und die Fähigkeit sich ZU
vervollkommnen, für immer abgehen. Während eine humane Gesetzgebung
den Menschen erzieht, weiter bildet und ihn allmälig mit dem Begriffe des
Gesetzes befreundet, setzt die drakonische im Menschen ihren Feind voraus, be¬
handelt ihn als solchen und kommt zu dem entgegengesetzten Endpunkte, --


Vielleicht ist der eigene Sohn, der ihm schweigend mit niedergeschlagenen
Augen zuhört, sein Spion, sein Verräther, — nicht aus Schlechtigkeit des
Herzens, sondern aus abgöttischen und fanatischem Gehorsam gegen die stärkere
Gewalt des Staats. Noch mehr als das; man ist auch verantwortlich für
das, was Andere thun. Für das Verbrechen, welches in einer Straße verübt
wird, sind sämmtliche Bewohner derselben verantwortlich, und so ist Jeder,
wenn nicht Spion aus Beruf und Pflicht, so doch aus Interesse. Fast die
einzige gemeinsame Strafe sür alle Vergehen ist der Tod; wer mehr als eines
halben Thalers Werth stiehlt, ist dem Strange verfallen.

Ueber die Wirkungen einer solchen drakonischen Gesetzgebung ist vielfach
geschrieben und gestritten worden. Ich muß gestehen, daß ich früher eine reale
Durchführung derselben für ein Phantasiestück gehalten habe; doch habe ich
mich in Japan vom Gegentheile überzeugt; sie ist hier in der That bis in's
kleinste Detail hinein ausgearbeitet und eine bewundernswürdige Wahrheit;
wenn sie Verbrechen nicht absolut verhüten kann, so macht sie dieselben doch
augenscheinlich selten, — der Diebstahl ist fast unbekannt. Ich habe mich von
der Möglichkeit des Systems überzeugt, aber zugleich haben sich meine Ideen
überedie Verwerflichkeit desselben durch, ein praktisches Beispiel und durch den
Augenschein befestigt, so sehr auch Anfangs die erzielte Sicherheit des Eigen¬
thums mein Auge bestechen mochte. Ich glaube, daß sich das System we¬
der aus materiell staatswirthschaftlichen noch aus rein menschlichen, moralischen
Rücksichten empfiehlt. Die Anstalten, welche der Staat treffen muß, um das
Verbrechen zu verhüten, sind weit großartiger und kostspieliger, als unser Ver¬
fahren, dieselben geschehen zu lassen und dann zu richten und zu strafen; ganz
verhütet können sie doch nicht werden und richterliche Organe sind niemals zu
entbehren. Dieser Zustand der Sicherheit wird außerdem mit zu vielen Opfern
der persönlichen Freiheit erkauft. Das ganze Heer der Bestimmungen, welche
die Sicherung des Eigenthums präventiv bezwecken, ist zugleich ein Hemmschuh
für die Freiheit der Bewegung; sie schützen den Einzelnen unvollkommen vor
dem Verlust und schneiden ihm die Möglichkeit des Gewinns ab. Tausend
Dinge, die er sonst thun könnte, die zur fortschreitenden Bereicherung seines
Vermögens führen würden, muß er nun unterlassen. Der Effect ist Still¬
stand.

Das Schlimmste aber liegt darin, daß dies System den Menschen nicht
bessert, da es ihn als unvernünftiges Wesen voraussetzt, dem die Einsicht >"
die Erfordernisse des gesellschaftlichen Organismus und die Fähigkeit sich ZU
vervollkommnen, für immer abgehen. Während eine humane Gesetzgebung
den Menschen erzieht, weiter bildet und ihn allmälig mit dem Begriffe des
Gesetzes befreundet, setzt die drakonische im Menschen ihren Feind voraus, be¬
handelt ihn als solchen und kommt zu dem entgegengesetzten Endpunkte, —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/284>, abgerufen am 02.07.2024.