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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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sie macht ihn zu einem erbitterten Feinde des Gesetzes, nicht zu einem offenen
und ehrlichen, sondern zu einem heimlichen und desto gefährlicheren.

Gewiß wird mich der größte Enthusiast, der begeistertste Verehrer dieses
wunderbaren Volkes zugestehen müssen, daß hinter der glatten, freundlichen
und geduldigen Maske ein unbeschreibliches Etwas liegt, das zur Vorsicht
mahnt; gewiß wird sich ihm oft die Bemerkung aufgedrängt haben, daß die
Japaner durchgängig hohe Meister in der Kunst der Lüge sind, daß Verstellung
und Heuchelei ihnen zur zweiten Natur geworden ist. Wie könnte es anders
sein! Wie könnte Despotismus und eine drakonische Gesetzgebung jemals
anders wirken! Es ist dies eine der Schattenseiten, die selbst mit einer Muster-
Despotie, wie die japanische es ist, unzertrennlich verbunden sind.

Wenn aber irgend etwas der Gewinnung eines festen und wohlbegründeten
Urtheils über japanische Zustände entgegensteht, so ist es die überall auftau¬
chende Schwierigkeit, den Schein von der Wahrheit zu unterscheiden. Hieraus
allein erklären sich die so verschiedenen Anschauungen, welche verschiedene Rei¬
sende gewinnen, hieraus allein erklärt sich, daß die meisten derselben, getäuscht
vom Schein, zu blinden Enthusiasten werden, die aus der japanischen Welt
eine Musterkarte aller menschlichen Tugenden herauslesen und Heransschreiben.
Unter allen Europäern, die seit wenigstens einem Jahre ni Japan ansässig
sind und mit dem Volke in täglichem und unmittelbarem Verkehre stehen,
habe ich keinen einzigen Enthusiasten gefunden; sie mißtrauen Allem und gehen
darin ebenfalls zu weit. Ich meine vielmehr, daß man erstaunen muß über
den unerschöpflichen Fond guter Menschennatur, der ursprünglich in diese
Völkerfamilie gepflanzt war. Nicht das ganze tausendjährig wirkende Heer
von Institutionen, die sich sonst in der ganzen übrigen Welt als vollständig
demoraUfirend erwiesen haben, ist hier im Stande gewesen, angeborene Her¬
zensgüte und fröhlichen Sinn zu unterdrücken; sie sind nicht im Stande ge¬
wesen, dem wenn anch despotisch beherrschten Menschen das Gepräge eines
hündischen, schweifwedelnden Sklaven aufzudrücken und aus seiner Seele eine
gewisse Summe von Stolz auszulöschen, die sich bis zum Adel erhebt, und
die Seele manches Mannes zieren würde, der sich damit brüstet, Bürger
eines freien Staates der alten Welt zu sein.

Irgend wohin mußte diese gute Amada sich flüchten, irgendwo mußte
sie genährt und geübt werden, wenn sie nicht erlöschen sollte. Da sie um
Staate nicht Ausdruck fand, flüchrete sie sich in die Familie. Und hier ent¬
öltet sich ein Bild vor uns. das gleich belehrend und beschämend für uns
'se- Nichts war mir wohlthuender in Japan, als der wirkliche und schöne
Frieden, der im Hause, in der Familie wohnt. Keine weinerlichen, senti¬
mentalen Liebesbezeugungen. deren Aufrichtigkeit verdächtig sein könnte. >or-
bem ein achtungsvolles, überall höfliches Betragen, ein freundliches Unter-


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sie macht ihn zu einem erbitterten Feinde des Gesetzes, nicht zu einem offenen
und ehrlichen, sondern zu einem heimlichen und desto gefährlicheren.

Gewiß wird mich der größte Enthusiast, der begeistertste Verehrer dieses
wunderbaren Volkes zugestehen müssen, daß hinter der glatten, freundlichen
und geduldigen Maske ein unbeschreibliches Etwas liegt, das zur Vorsicht
mahnt; gewiß wird sich ihm oft die Bemerkung aufgedrängt haben, daß die
Japaner durchgängig hohe Meister in der Kunst der Lüge sind, daß Verstellung
und Heuchelei ihnen zur zweiten Natur geworden ist. Wie könnte es anders
sein! Wie könnte Despotismus und eine drakonische Gesetzgebung jemals
anders wirken! Es ist dies eine der Schattenseiten, die selbst mit einer Muster-
Despotie, wie die japanische es ist, unzertrennlich verbunden sind.

Wenn aber irgend etwas der Gewinnung eines festen und wohlbegründeten
Urtheils über japanische Zustände entgegensteht, so ist es die überall auftau¬
chende Schwierigkeit, den Schein von der Wahrheit zu unterscheiden. Hieraus
allein erklären sich die so verschiedenen Anschauungen, welche verschiedene Rei¬
sende gewinnen, hieraus allein erklärt sich, daß die meisten derselben, getäuscht
vom Schein, zu blinden Enthusiasten werden, die aus der japanischen Welt
eine Musterkarte aller menschlichen Tugenden herauslesen und Heransschreiben.
Unter allen Europäern, die seit wenigstens einem Jahre ni Japan ansässig
sind und mit dem Volke in täglichem und unmittelbarem Verkehre stehen,
habe ich keinen einzigen Enthusiasten gefunden; sie mißtrauen Allem und gehen
darin ebenfalls zu weit. Ich meine vielmehr, daß man erstaunen muß über
den unerschöpflichen Fond guter Menschennatur, der ursprünglich in diese
Völkerfamilie gepflanzt war. Nicht das ganze tausendjährig wirkende Heer
von Institutionen, die sich sonst in der ganzen übrigen Welt als vollständig
demoraUfirend erwiesen haben, ist hier im Stande gewesen, angeborene Her¬
zensgüte und fröhlichen Sinn zu unterdrücken; sie sind nicht im Stande ge¬
wesen, dem wenn anch despotisch beherrschten Menschen das Gepräge eines
hündischen, schweifwedelnden Sklaven aufzudrücken und aus seiner Seele eine
gewisse Summe von Stolz auszulöschen, die sich bis zum Adel erhebt, und
die Seele manches Mannes zieren würde, der sich damit brüstet, Bürger
eines freien Staates der alten Welt zu sein.

Irgend wohin mußte diese gute Amada sich flüchten, irgendwo mußte
sie genährt und geübt werden, wenn sie nicht erlöschen sollte. Da sie um
Staate nicht Ausdruck fand, flüchrete sie sich in die Familie. Und hier ent¬
öltet sich ein Bild vor uns. das gleich belehrend und beschämend für uns
'se- Nichts war mir wohlthuender in Japan, als der wirkliche und schöne
Frieden, der im Hause, in der Familie wohnt. Keine weinerlichen, senti¬
mentalen Liebesbezeugungen. deren Aufrichtigkeit verdächtig sein könnte. >or-
bem ein achtungsvolles, überall höfliches Betragen, ein freundliches Unter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/285>, abgerufen am 01.07.2024.