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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Schon vo" den Shakespeareschen Dramen hat Othello, wie erwähnt, einen
ähnlichen Bau. Was aber bei ihm als eine Abweichung von der Regel der
tragischen Handlung erscheint, das war im vorigen Jahrhundert in Deutsch¬
land gewöhnlich. Selbst Schiller, welcher doch heftige Leidenschaften aufzuregen
weiß, liebt es, das Vorwärtsbewegen der Handlung unter die Parteien des
Drama's so zu vertheilen, daß die Gegenfiguren in dem ersten Theil, die
Haupthelden erst in der Umkehr vom Höhenpunkt abwärts die Führung er¬
halten. So werden in Kabale und Liebe Ferdinand und Louise durch die In¬
triganten fortgestoßen; von der Scene zwischen Ferdinand und dem Präsidenten,
dem Höhenpunkt, übernimmt Ferdinand die Führung bis zur Katastrophe. In
Maria Stucirt hat Maria im ersten und Elisabeth im zweiten Theil die fort¬
bewegende Rolle, denn nach der großen Gartenscene concentrirt sich das dra¬
matische Interesse in Elisabeth, und gerade dieser Theil des Drama's ist in
der Arbeit vortrefflich. Die große Tragödie Wallenstein dagegen hat einen
durchaus regelmäßigen und sehr interessanten Bau, der. wenn man das La¬
ger als Prolog abrechnet, sowol in den Piccolomini, als in Wallensteins
Tod trotz der breiten Ausführung die Handlung energisch zusammenschließt.
In den Piccolomini ist das bewegende Moment im ersten Act ein dop¬
peltes, die Versammlung der Generäle und Questenbergs und die Ankunft
Thekla's im Lager. Die Hauptpersonen dieses Stücks sind die Liebenden, der
Höhenpunkt des Drama's beginnt mit den Worten Thekla's: "Trau ihnen
nicht, sie meinen's falsch," er bezeichnet die Emancipation der Liebenden
von ihrer Umgebung, und die Katastrophe die völlige Lösung des Helden
Max von seinem Vater. In Wallenstein'ö Tod ist das bewegende Mo>
neue die Gefangennahme Schina's (welche nur berichtet wird) und die
darauf folgende Unterredung zwischen Wallenstein und Wrangel, Höhenpunkt
ist die Trennung des Max und seiner Kürassiere von Wallenstein, Katastrophe
der Untergang des Wallenstein, des Helden dieser Tragödie. Nun aber sind
beide Dramen sehr kunstvoll so verbunden, daß sie zusammen eine einheitliche
Doppelhandlung bilden. Deshalb liegen in den Piccolomini zwei aufregende
Momente: die Unzufriedenheit der Generale und die Aufregung des Max
durch seine Liebe, bei einander, und die beiden Dramen sind so combinirt,
daß für die Gesammthnndlung die Katastrophe der Piccolomini und das aufre¬
gende Moment von Wallenstein's Tod die nebeneinander liegenden beiden Höhen¬
punkte bilden und wieder eine doppelte Katastrophe, Thekla's Entschluß nach
dem Tode des Max, und die Ermordung des Wallenstein den Schluß der letzten
Tragödie machen. Die ganze Trilogie ist ihrer Handlung nach das Kunst¬
vollste und Größte, was die dramatische Kunst der Deutschen hervorgebracht hat.

Dem Dichter der Gegenwart aber soll die Handlung, der eigenthümliche
Bau deutscher Dramen, wie schon viele ihrer Wirkungen auch sind, nicht


Schon vo» den Shakespeareschen Dramen hat Othello, wie erwähnt, einen
ähnlichen Bau. Was aber bei ihm als eine Abweichung von der Regel der
tragischen Handlung erscheint, das war im vorigen Jahrhundert in Deutsch¬
land gewöhnlich. Selbst Schiller, welcher doch heftige Leidenschaften aufzuregen
weiß, liebt es, das Vorwärtsbewegen der Handlung unter die Parteien des
Drama's so zu vertheilen, daß die Gegenfiguren in dem ersten Theil, die
Haupthelden erst in der Umkehr vom Höhenpunkt abwärts die Führung er¬
halten. So werden in Kabale und Liebe Ferdinand und Louise durch die In¬
triganten fortgestoßen; von der Scene zwischen Ferdinand und dem Präsidenten,
dem Höhenpunkt, übernimmt Ferdinand die Führung bis zur Katastrophe. In
Maria Stucirt hat Maria im ersten und Elisabeth im zweiten Theil die fort¬
bewegende Rolle, denn nach der großen Gartenscene concentrirt sich das dra¬
matische Interesse in Elisabeth, und gerade dieser Theil des Drama's ist in
der Arbeit vortrefflich. Die große Tragödie Wallenstein dagegen hat einen
durchaus regelmäßigen und sehr interessanten Bau, der. wenn man das La¬
ger als Prolog abrechnet, sowol in den Piccolomini, als in Wallensteins
Tod trotz der breiten Ausführung die Handlung energisch zusammenschließt.
In den Piccolomini ist das bewegende Moment im ersten Act ein dop¬
peltes, die Versammlung der Generäle und Questenbergs und die Ankunft
Thekla's im Lager. Die Hauptpersonen dieses Stücks sind die Liebenden, der
Höhenpunkt des Drama's beginnt mit den Worten Thekla's: „Trau ihnen
nicht, sie meinen's falsch," er bezeichnet die Emancipation der Liebenden
von ihrer Umgebung, und die Katastrophe die völlige Lösung des Helden
Max von seinem Vater. In Wallenstein'ö Tod ist das bewegende Mo>
neue die Gefangennahme Schina's (welche nur berichtet wird) und die
darauf folgende Unterredung zwischen Wallenstein und Wrangel, Höhenpunkt
ist die Trennung des Max und seiner Kürassiere von Wallenstein, Katastrophe
der Untergang des Wallenstein, des Helden dieser Tragödie. Nun aber sind
beide Dramen sehr kunstvoll so verbunden, daß sie zusammen eine einheitliche
Doppelhandlung bilden. Deshalb liegen in den Piccolomini zwei aufregende
Momente: die Unzufriedenheit der Generale und die Aufregung des Max
durch seine Liebe, bei einander, und die beiden Dramen sind so combinirt,
daß für die Gesammthnndlung die Katastrophe der Piccolomini und das aufre¬
gende Moment von Wallenstein's Tod die nebeneinander liegenden beiden Höhen¬
punkte bilden und wieder eine doppelte Katastrophe, Thekla's Entschluß nach
dem Tode des Max, und die Ermordung des Wallenstein den Schluß der letzten
Tragödie machen. Die ganze Trilogie ist ihrer Handlung nach das Kunst¬
vollste und Größte, was die dramatische Kunst der Deutschen hervorgebracht hat.

Dem Dichter der Gegenwart aber soll die Handlung, der eigenthümliche
Bau deutscher Dramen, wie schon viele ihrer Wirkungen auch sind, nicht


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[0236] Schon vo» den Shakespeareschen Dramen hat Othello, wie erwähnt, einen ähnlichen Bau. Was aber bei ihm als eine Abweichung von der Regel der tragischen Handlung erscheint, das war im vorigen Jahrhundert in Deutsch¬ land gewöhnlich. Selbst Schiller, welcher doch heftige Leidenschaften aufzuregen weiß, liebt es, das Vorwärtsbewegen der Handlung unter die Parteien des Drama's so zu vertheilen, daß die Gegenfiguren in dem ersten Theil, die Haupthelden erst in der Umkehr vom Höhenpunkt abwärts die Führung er¬ halten. So werden in Kabale und Liebe Ferdinand und Louise durch die In¬ triganten fortgestoßen; von der Scene zwischen Ferdinand und dem Präsidenten, dem Höhenpunkt, übernimmt Ferdinand die Führung bis zur Katastrophe. In Maria Stucirt hat Maria im ersten und Elisabeth im zweiten Theil die fort¬ bewegende Rolle, denn nach der großen Gartenscene concentrirt sich das dra¬ matische Interesse in Elisabeth, und gerade dieser Theil des Drama's ist in der Arbeit vortrefflich. Die große Tragödie Wallenstein dagegen hat einen durchaus regelmäßigen und sehr interessanten Bau, der. wenn man das La¬ ger als Prolog abrechnet, sowol in den Piccolomini, als in Wallensteins Tod trotz der breiten Ausführung die Handlung energisch zusammenschließt. In den Piccolomini ist das bewegende Moment im ersten Act ein dop¬ peltes, die Versammlung der Generäle und Questenbergs und die Ankunft Thekla's im Lager. Die Hauptpersonen dieses Stücks sind die Liebenden, der Höhenpunkt des Drama's beginnt mit den Worten Thekla's: „Trau ihnen nicht, sie meinen's falsch," er bezeichnet die Emancipation der Liebenden von ihrer Umgebung, und die Katastrophe die völlige Lösung des Helden Max von seinem Vater. In Wallenstein'ö Tod ist das bewegende Mo> neue die Gefangennahme Schina's (welche nur berichtet wird) und die darauf folgende Unterredung zwischen Wallenstein und Wrangel, Höhenpunkt ist die Trennung des Max und seiner Kürassiere von Wallenstein, Katastrophe der Untergang des Wallenstein, des Helden dieser Tragödie. Nun aber sind beide Dramen sehr kunstvoll so verbunden, daß sie zusammen eine einheitliche Doppelhandlung bilden. Deshalb liegen in den Piccolomini zwei aufregende Momente: die Unzufriedenheit der Generale und die Aufregung des Max durch seine Liebe, bei einander, und die beiden Dramen sind so combinirt, daß für die Gesammthnndlung die Katastrophe der Piccolomini und das aufre¬ gende Moment von Wallenstein's Tod die nebeneinander liegenden beiden Höhen¬ punkte bilden und wieder eine doppelte Katastrophe, Thekla's Entschluß nach dem Tode des Max, und die Ermordung des Wallenstein den Schluß der letzten Tragödie machen. Die ganze Trilogie ist ihrer Handlung nach das Kunst¬ vollste und Größte, was die dramatische Kunst der Deutschen hervorgebracht hat. Dem Dichter der Gegenwart aber soll die Handlung, der eigenthümliche Bau deutscher Dramen, wie schon viele ihrer Wirkungen auch sind, nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/236>, abgerufen am 24.08.2024.