Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

aber diese Versöhnung und die tragische Wirkung des Drama's hervorbringt,
davon soll später die Rede sein.

So organisirt sich bei jedem Drama die Handlung in fünf Theilen, den
Acten. Jeder Act umfaßt einen bestimmten Theil der Handlung, jeder hat
für das Ganze des Drama's seiue besondere Aufgabe.

Act I. Exposition, das aufregende Moment, Beginn des aufsteigenden
Kampfes.
Act 2. Steigerung des Kampfes, die reagirenden Elemente des zweiten
Theils werden als Verbündete oder in beginnendem Conflicte mit dem Haupt-
Helden dargestellt. Der Schluß des zweiten Actes macht eine groß ausgeführte
Scene wünschenswerth.
Act 3. Scheinbarer Sieg des Helden, der Hiihenpunkt, erste Wirkungen
desselben auf die Umgebung.
Act 4. Die Umkehr, der Gegcntampf organisirt sich, starke Steigerung
desselben in einer Hauptscene. (Das retardirende Moment).
Act 5. (Das retardirende Moment) Sieg der Gegenpartei. Kata¬
strophe. Schlußsituation. Erhebung.

Nur nebenbei sei bemerkt, daß diese fünf Theile bei kleinere" Stoffen
und kurzer Behandlung allerdings ein Zusammenziehen in eine kleinere An¬
zahl von Acten vertragen. Immer müssen die drei Momente: Beginnen des
Kampfes, Höhenpunkt, Gegenspiel und Katastrophe, sich stark von einander
abheben, die Handlung läßt sich dann in drei Acten zusammenfassen; auch
bei der kleinsten Handlung, welche in einem Acte verlaufen kann, sind inner¬
halb desselben die drei oder fünf Theile erkennbar.

Dies ist der Bau, welchen die meisten der großen Dramen von Shake¬
speare haben. Unter den deutschen Dichtern, nicht zufällig, die starke drama¬
tische Kraft von Heinrich Kleist zweimal besonders schön.

Allerdings sind diese Gesetze der Handlung keine Schablone, in welche
steh jeder Stoff drücken läßt. Neben der Regel steht auch hier die Ausnahme.
Zumal eine Abweichung von diesem Bau hat für uns Deutsche besondere Be¬
deutung gewonnen. Bei mehren Dramen der deutschen großen Dichter ist
"änlich das Verhältniß der Hauptfiguren zu der Idee des Drama's ein
etwas anderes. Das deutsche Familiendrama legt die treibende Kraft der
ersten Hälfte nicht in die Hauptgestalten. sondern in die Gegenspieler, und
^ sieht fast aus. als möchten die deutschen Helden ruhig in ihrer Stim¬
mung beharren, wenn man sie nur ließe. So wird die Bewegung, welche
Shakespeare schon im ersten Act in die Seele der Haupthelden legt, bei
den gründlich motivirenden Deutschen häufig erst im Höhenpunkte der Hand-
lung das verhängnißvolle Moment im Leben der Helden. Sie wan¬
deln sich erst von da abwärts in gerader Linie bis zu ihrem Untergange.


Grenzboten II, 1"61. 29

aber diese Versöhnung und die tragische Wirkung des Drama's hervorbringt,
davon soll später die Rede sein.

So organisirt sich bei jedem Drama die Handlung in fünf Theilen, den
Acten. Jeder Act umfaßt einen bestimmten Theil der Handlung, jeder hat
für das Ganze des Drama's seiue besondere Aufgabe.

Act I. Exposition, das aufregende Moment, Beginn des aufsteigenden
Kampfes.
Act 2. Steigerung des Kampfes, die reagirenden Elemente des zweiten
Theils werden als Verbündete oder in beginnendem Conflicte mit dem Haupt-
Helden dargestellt. Der Schluß des zweiten Actes macht eine groß ausgeführte
Scene wünschenswerth.
Act 3. Scheinbarer Sieg des Helden, der Hiihenpunkt, erste Wirkungen
desselben auf die Umgebung.
Act 4. Die Umkehr, der Gegcntampf organisirt sich, starke Steigerung
desselben in einer Hauptscene. (Das retardirende Moment).
Act 5. (Das retardirende Moment) Sieg der Gegenpartei. Kata¬
strophe. Schlußsituation. Erhebung.

Nur nebenbei sei bemerkt, daß diese fünf Theile bei kleinere» Stoffen
und kurzer Behandlung allerdings ein Zusammenziehen in eine kleinere An¬
zahl von Acten vertragen. Immer müssen die drei Momente: Beginnen des
Kampfes, Höhenpunkt, Gegenspiel und Katastrophe, sich stark von einander
abheben, die Handlung läßt sich dann in drei Acten zusammenfassen; auch
bei der kleinsten Handlung, welche in einem Acte verlaufen kann, sind inner¬
halb desselben die drei oder fünf Theile erkennbar.

Dies ist der Bau, welchen die meisten der großen Dramen von Shake¬
speare haben. Unter den deutschen Dichtern, nicht zufällig, die starke drama¬
tische Kraft von Heinrich Kleist zweimal besonders schön.

Allerdings sind diese Gesetze der Handlung keine Schablone, in welche
steh jeder Stoff drücken läßt. Neben der Regel steht auch hier die Ausnahme.
Zumal eine Abweichung von diesem Bau hat für uns Deutsche besondere Be¬
deutung gewonnen. Bei mehren Dramen der deutschen großen Dichter ist
"änlich das Verhältniß der Hauptfiguren zu der Idee des Drama's ein
etwas anderes. Das deutsche Familiendrama legt die treibende Kraft der
ersten Hälfte nicht in die Hauptgestalten. sondern in die Gegenspieler, und
^ sieht fast aus. als möchten die deutschen Helden ruhig in ihrer Stim¬
mung beharren, wenn man sie nur ließe. So wird die Bewegung, welche
Shakespeare schon im ersten Act in die Seele der Haupthelden legt, bei
den gründlich motivirenden Deutschen häufig erst im Höhenpunkte der Hand-
lung das verhängnißvolle Moment im Leben der Helden. Sie wan¬
deln sich erst von da abwärts in gerader Linie bis zu ihrem Untergange.


Grenzboten II, 1»61. 29
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0235" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111667"/>
            <p xml:id="ID_717" prev="#ID_716"> aber diese Versöhnung und die tragische Wirkung des Drama's hervorbringt,<lb/>
davon soll später die Rede sein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_718"> So organisirt sich bei jedem Drama die Handlung in fünf Theilen, den<lb/>
Acten. Jeder Act umfaßt einen bestimmten Theil der Handlung, jeder hat<lb/>
für das Ganze des Drama's seiue besondere Aufgabe.</p><lb/>
            <list>
              <item> Act I. Exposition, das aufregende Moment, Beginn des aufsteigenden<lb/>
Kampfes.</item>
              <item> Act 2. Steigerung des Kampfes, die reagirenden Elemente des zweiten<lb/>
Theils werden als Verbündete oder in beginnendem Conflicte mit dem Haupt-<lb/>
Helden dargestellt. Der Schluß des zweiten Actes macht eine groß ausgeführte<lb/>
Scene wünschenswerth.</item>
              <item> Act 3. Scheinbarer Sieg des Helden, der Hiihenpunkt, erste Wirkungen<lb/>
desselben auf die Umgebung.</item>
              <item> Act 4. Die Umkehr, der Gegcntampf organisirt sich, starke Steigerung<lb/>
desselben in einer Hauptscene.  (Das retardirende Moment).</item>
              <item> Act 5. (Das retardirende Moment) Sieg der Gegenpartei. Kata¬<lb/>
strophe. Schlußsituation. Erhebung.</item>
            </list><lb/>
            <p xml:id="ID_719"> Nur nebenbei sei bemerkt, daß diese fünf Theile bei kleinere» Stoffen<lb/>
und kurzer Behandlung allerdings ein Zusammenziehen in eine kleinere An¬<lb/>
zahl von Acten vertragen. Immer müssen die drei Momente: Beginnen des<lb/>
Kampfes, Höhenpunkt, Gegenspiel und Katastrophe, sich stark von einander<lb/>
abheben, die Handlung läßt sich dann in drei Acten zusammenfassen; auch<lb/>
bei der kleinsten Handlung, welche in einem Acte verlaufen kann, sind inner¬<lb/>
halb desselben die drei oder fünf Theile erkennbar.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_720"> Dies ist der Bau, welchen die meisten der großen Dramen von Shake¬<lb/>
speare haben. Unter den deutschen Dichtern, nicht zufällig, die starke drama¬<lb/>
tische Kraft von Heinrich Kleist zweimal besonders schön.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_721" next="#ID_722"> Allerdings sind diese Gesetze der Handlung keine Schablone, in welche<lb/>
steh jeder Stoff drücken läßt. Neben der Regel steht auch hier die Ausnahme.<lb/>
Zumal eine Abweichung von diesem Bau hat für uns Deutsche besondere Be¬<lb/>
deutung gewonnen. Bei mehren Dramen der deutschen großen Dichter ist<lb/>
"änlich das Verhältniß der Hauptfiguren zu der Idee des Drama's ein<lb/>
etwas anderes. Das deutsche Familiendrama legt die treibende Kraft der<lb/>
ersten Hälfte nicht in die Hauptgestalten. sondern in die Gegenspieler, und<lb/>
^ sieht fast aus. als möchten die deutschen Helden ruhig in ihrer Stim¬<lb/>
mung beharren, wenn man sie nur ließe. So wird die Bewegung, welche<lb/>
Shakespeare schon im ersten Act in die Seele der Haupthelden legt, bei<lb/>
den gründlich motivirenden Deutschen häufig erst im Höhenpunkte der Hand-<lb/>
lung das verhängnißvolle Moment im Leben der Helden. Sie wan¬<lb/>
deln sich erst von da abwärts in gerader Linie bis zu ihrem Untergange.</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II, 1»61. 29</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0235] aber diese Versöhnung und die tragische Wirkung des Drama's hervorbringt, davon soll später die Rede sein. So organisirt sich bei jedem Drama die Handlung in fünf Theilen, den Acten. Jeder Act umfaßt einen bestimmten Theil der Handlung, jeder hat für das Ganze des Drama's seiue besondere Aufgabe. Act I. Exposition, das aufregende Moment, Beginn des aufsteigenden Kampfes. Act 2. Steigerung des Kampfes, die reagirenden Elemente des zweiten Theils werden als Verbündete oder in beginnendem Conflicte mit dem Haupt- Helden dargestellt. Der Schluß des zweiten Actes macht eine groß ausgeführte Scene wünschenswerth. Act 3. Scheinbarer Sieg des Helden, der Hiihenpunkt, erste Wirkungen desselben auf die Umgebung. Act 4. Die Umkehr, der Gegcntampf organisirt sich, starke Steigerung desselben in einer Hauptscene. (Das retardirende Moment). Act 5. (Das retardirende Moment) Sieg der Gegenpartei. Kata¬ strophe. Schlußsituation. Erhebung. Nur nebenbei sei bemerkt, daß diese fünf Theile bei kleinere» Stoffen und kurzer Behandlung allerdings ein Zusammenziehen in eine kleinere An¬ zahl von Acten vertragen. Immer müssen die drei Momente: Beginnen des Kampfes, Höhenpunkt, Gegenspiel und Katastrophe, sich stark von einander abheben, die Handlung läßt sich dann in drei Acten zusammenfassen; auch bei der kleinsten Handlung, welche in einem Acte verlaufen kann, sind inner¬ halb desselben die drei oder fünf Theile erkennbar. Dies ist der Bau, welchen die meisten der großen Dramen von Shake¬ speare haben. Unter den deutschen Dichtern, nicht zufällig, die starke drama¬ tische Kraft von Heinrich Kleist zweimal besonders schön. Allerdings sind diese Gesetze der Handlung keine Schablone, in welche steh jeder Stoff drücken läßt. Neben der Regel steht auch hier die Ausnahme. Zumal eine Abweichung von diesem Bau hat für uns Deutsche besondere Be¬ deutung gewonnen. Bei mehren Dramen der deutschen großen Dichter ist "änlich das Verhältniß der Hauptfiguren zu der Idee des Drama's ein etwas anderes. Das deutsche Familiendrama legt die treibende Kraft der ersten Hälfte nicht in die Hauptgestalten. sondern in die Gegenspieler, und ^ sieht fast aus. als möchten die deutschen Helden ruhig in ihrer Stim¬ mung beharren, wenn man sie nur ließe. So wird die Bewegung, welche Shakespeare schon im ersten Act in die Seele der Haupthelden legt, bei den gründlich motivirenden Deutschen häufig erst im Höhenpunkte der Hand- lung das verhängnißvolle Moment im Leben der Helden. Sie wan¬ deln sich erst von da abwärts in gerader Linie bis zu ihrem Untergange. Grenzboten II, 1»61. 29

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/235
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/235>, abgerufen am 24.08.2024.