Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

reizvollen Gedichts, in Thoas und Iphigenie, zu Tage kommt-, steht in
einem sehr wunderlichen Contraste zu der letzten Voraussetzung des Stückes,
dem kannibalischen Brauch der Menschenopfer im Reich des Thoas. Daß die
Poesie Goethe's uns diese Unwahrheit verhüllt, das ist große Kunst, man em¬
pfindet sie aber doch durch. -- So sind ferner alle Liebesscenen in historischen
Stücken von besonderer Schwierigkeit. Hier, wo wir die unmittelbarsten Klänge
einer holden Leidenschaft fordern, ist es eine besonders schwere Aufgabe, zu
gleicher Zeit die Zeitfarbe zu geben. Am besten gedeiht es dem Dichter noch
dann, wenn er, wie Goethe bei Gretchen, zu gleicher Zeit andere Besonder¬
heiten des Charakters mit starker Farbe malen und bis an die Grenzen des
Genre hinabgehen darf.

Aber noch interessanter ist der Kampf, welchen der Dramatiker in seinen
Rollen gegen das führen muß, was er als Natur zu idealisiren hat. Seine
Aufgabe ist, großer Leidenschaft auch großen Ausdruck zu geben. Er hat da¬
bei zum Gehilfen den Darsteller, also die leidenschaftlichen Accente der
Stimme, Gestalt, Mimik und Geberde. Trotz dieser reichen Mittel vermag er
fast niemals, und grabe in den Momenten höherer Leidenschaft nicht, die ent¬
sprechenden Erscheinungen des wirklichen Lebens ohne große Veränderungen
zu verwenden, wie stark und schön und wirksam sich dort bei starken Naturen
auch die Leidenschaft ausspreche, und wie sehr sie dem zufälligen Beobachter
imponire. Auf der Bühne soll die Erscheinung in die Entfernung wirken.
Selbst beim kleinen Theater ist ein verhältnißmäßig großer Zuschauerraum
mit dem Ausdruck der Leidenschaft zu füllen, grade die feinsten Accente aber
des wirkliche" Gefühls in Stimme, Blick, selbst in der Haltung werden
dem Publicum schon der Entfernung wegen durchaus nicht so deutlich und
imponirend. als sie im Leben sind. Und ferner, es ist die Aufgabe des Dra¬
mas, ein solches Arbeiten der Leidenschaft in allen Momenten verständlich
und eindringlich zu machen; denn es ist nicht die Leidenschaft selbst, welche wirkt,
sondern die dramatische Schilderung derselben durch Rede und Mimik; immer
sind die Charaktere der Bühne bestrebt, ihr Inneres dem Publicum zuzu¬
kehren. Sie ^müssen deshalb für die Wirkung auswählen, und wieder ver¬
zichten, manches Jmponirende zu verwenden. Die flüchtigen Gedanken, welche
in der Seele des Leidenschaftliche." durcheinander zucken, Schlüsse, welche mit der
Schnelligkeit des Blitzes gemacht werden, die in großer Zahl wechselnden
Scelenbewegungen, welche bald undeutlicher, bald lebendiger zu Tage kommen,
sie alle in ihrer ungeordneten Fülle, ihrem schnellen Wechsel, oft unvoll¬
kommenen Ausdruck, vermag die Kunst so nicht zu häufen. Sie braucht für
jede Vorstellung, jede starke Empfindung eine gewisse Zahl imponirender
Worte und Gebcroen, die Verbindung derselben durch Uebergänge oder in
scharfen Contrasten erfordert ebenfalls ein zweckvolles Spiel, jedes einzelne


reizvollen Gedichts, in Thoas und Iphigenie, zu Tage kommt-, steht in
einem sehr wunderlichen Contraste zu der letzten Voraussetzung des Stückes,
dem kannibalischen Brauch der Menschenopfer im Reich des Thoas. Daß die
Poesie Goethe's uns diese Unwahrheit verhüllt, das ist große Kunst, man em¬
pfindet sie aber doch durch. — So sind ferner alle Liebesscenen in historischen
Stücken von besonderer Schwierigkeit. Hier, wo wir die unmittelbarsten Klänge
einer holden Leidenschaft fordern, ist es eine besonders schwere Aufgabe, zu
gleicher Zeit die Zeitfarbe zu geben. Am besten gedeiht es dem Dichter noch
dann, wenn er, wie Goethe bei Gretchen, zu gleicher Zeit andere Besonder¬
heiten des Charakters mit starker Farbe malen und bis an die Grenzen des
Genre hinabgehen darf.

Aber noch interessanter ist der Kampf, welchen der Dramatiker in seinen
Rollen gegen das führen muß, was er als Natur zu idealisiren hat. Seine
Aufgabe ist, großer Leidenschaft auch großen Ausdruck zu geben. Er hat da¬
bei zum Gehilfen den Darsteller, also die leidenschaftlichen Accente der
Stimme, Gestalt, Mimik und Geberde. Trotz dieser reichen Mittel vermag er
fast niemals, und grabe in den Momenten höherer Leidenschaft nicht, die ent¬
sprechenden Erscheinungen des wirklichen Lebens ohne große Veränderungen
zu verwenden, wie stark und schön und wirksam sich dort bei starken Naturen
auch die Leidenschaft ausspreche, und wie sehr sie dem zufälligen Beobachter
imponire. Auf der Bühne soll die Erscheinung in die Entfernung wirken.
Selbst beim kleinen Theater ist ein verhältnißmäßig großer Zuschauerraum
mit dem Ausdruck der Leidenschaft zu füllen, grade die feinsten Accente aber
des wirkliche» Gefühls in Stimme, Blick, selbst in der Haltung werden
dem Publicum schon der Entfernung wegen durchaus nicht so deutlich und
imponirend. als sie im Leben sind. Und ferner, es ist die Aufgabe des Dra¬
mas, ein solches Arbeiten der Leidenschaft in allen Momenten verständlich
und eindringlich zu machen; denn es ist nicht die Leidenschaft selbst, welche wirkt,
sondern die dramatische Schilderung derselben durch Rede und Mimik; immer
sind die Charaktere der Bühne bestrebt, ihr Inneres dem Publicum zuzu¬
kehren. Sie ^müssen deshalb für die Wirkung auswählen, und wieder ver¬
zichten, manches Jmponirende zu verwenden. Die flüchtigen Gedanken, welche
in der Seele des Leidenschaftliche.« durcheinander zucken, Schlüsse, welche mit der
Schnelligkeit des Blitzes gemacht werden, die in großer Zahl wechselnden
Scelenbewegungen, welche bald undeutlicher, bald lebendiger zu Tage kommen,
sie alle in ihrer ungeordneten Fülle, ihrem schnellen Wechsel, oft unvoll¬
kommenen Ausdruck, vermag die Kunst so nicht zu häufen. Sie braucht für
jede Vorstellung, jede starke Empfindung eine gewisse Zahl imponirender
Worte und Gebcroen, die Verbindung derselben durch Uebergänge oder in
scharfen Contrasten erfordert ebenfalls ein zweckvolles Spiel, jedes einzelne


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0196" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111628"/>
            <p xml:id="ID_580" prev="#ID_579"> reizvollen Gedichts, in Thoas und Iphigenie, zu Tage kommt-, steht in<lb/>
einem sehr wunderlichen Contraste zu der letzten Voraussetzung des Stückes,<lb/>
dem kannibalischen Brauch der Menschenopfer im Reich des Thoas. Daß die<lb/>
Poesie Goethe's uns diese Unwahrheit verhüllt, das ist große Kunst, man em¬<lb/>
pfindet sie aber doch durch. &#x2014; So sind ferner alle Liebesscenen in historischen<lb/>
Stücken von besonderer Schwierigkeit. Hier, wo wir die unmittelbarsten Klänge<lb/>
einer holden Leidenschaft fordern, ist es eine besonders schwere Aufgabe, zu<lb/>
gleicher Zeit die Zeitfarbe zu geben. Am besten gedeiht es dem Dichter noch<lb/>
dann, wenn er, wie Goethe bei Gretchen, zu gleicher Zeit andere Besonder¬<lb/>
heiten des Charakters mit starker Farbe malen und bis an die Grenzen des<lb/>
Genre hinabgehen darf.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_581" next="#ID_582"> Aber noch interessanter ist der Kampf, welchen der Dramatiker in seinen<lb/>
Rollen gegen das führen muß, was er als Natur zu idealisiren hat. Seine<lb/>
Aufgabe ist, großer Leidenschaft auch großen Ausdruck zu geben. Er hat da¬<lb/>
bei zum Gehilfen den Darsteller, also die leidenschaftlichen Accente der<lb/>
Stimme, Gestalt, Mimik und Geberde. Trotz dieser reichen Mittel vermag er<lb/>
fast niemals, und grabe in den Momenten höherer Leidenschaft nicht, die ent¬<lb/>
sprechenden Erscheinungen des wirklichen Lebens ohne große Veränderungen<lb/>
zu verwenden, wie stark und schön und wirksam sich dort bei starken Naturen<lb/>
auch die Leidenschaft ausspreche, und wie sehr sie dem zufälligen Beobachter<lb/>
imponire. Auf der Bühne soll die Erscheinung in die Entfernung wirken.<lb/>
Selbst beim kleinen Theater ist ein verhältnißmäßig großer Zuschauerraum<lb/>
mit dem Ausdruck der Leidenschaft zu füllen, grade die feinsten Accente aber<lb/>
des wirkliche» Gefühls in Stimme, Blick, selbst in der Haltung werden<lb/>
dem Publicum schon der Entfernung wegen durchaus nicht so deutlich und<lb/>
imponirend. als sie im Leben sind. Und ferner, es ist die Aufgabe des Dra¬<lb/>
mas, ein solches Arbeiten der Leidenschaft in allen Momenten verständlich<lb/>
und eindringlich zu machen; denn es ist nicht die Leidenschaft selbst, welche wirkt,<lb/>
sondern die dramatische Schilderung derselben durch Rede und Mimik; immer<lb/>
sind die Charaktere der Bühne bestrebt, ihr Inneres dem Publicum zuzu¬<lb/>
kehren. Sie ^müssen deshalb für die Wirkung auswählen, und wieder ver¬<lb/>
zichten, manches Jmponirende zu verwenden. Die flüchtigen Gedanken, welche<lb/>
in der Seele des Leidenschaftliche.« durcheinander zucken, Schlüsse, welche mit der<lb/>
Schnelligkeit des Blitzes gemacht werden, die in großer Zahl wechselnden<lb/>
Scelenbewegungen, welche bald undeutlicher, bald lebendiger zu Tage kommen,<lb/>
sie alle in ihrer ungeordneten Fülle, ihrem schnellen Wechsel, oft unvoll¬<lb/>
kommenen Ausdruck, vermag die Kunst so nicht zu häufen. Sie braucht für<lb/>
jede Vorstellung, jede starke Empfindung eine gewisse Zahl imponirender<lb/>
Worte und Gebcroen, die Verbindung derselben durch Uebergänge oder in<lb/>
scharfen Contrasten erfordert ebenfalls ein zweckvolles Spiel, jedes einzelne</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0196] reizvollen Gedichts, in Thoas und Iphigenie, zu Tage kommt-, steht in einem sehr wunderlichen Contraste zu der letzten Voraussetzung des Stückes, dem kannibalischen Brauch der Menschenopfer im Reich des Thoas. Daß die Poesie Goethe's uns diese Unwahrheit verhüllt, das ist große Kunst, man em¬ pfindet sie aber doch durch. — So sind ferner alle Liebesscenen in historischen Stücken von besonderer Schwierigkeit. Hier, wo wir die unmittelbarsten Klänge einer holden Leidenschaft fordern, ist es eine besonders schwere Aufgabe, zu gleicher Zeit die Zeitfarbe zu geben. Am besten gedeiht es dem Dichter noch dann, wenn er, wie Goethe bei Gretchen, zu gleicher Zeit andere Besonder¬ heiten des Charakters mit starker Farbe malen und bis an die Grenzen des Genre hinabgehen darf. Aber noch interessanter ist der Kampf, welchen der Dramatiker in seinen Rollen gegen das führen muß, was er als Natur zu idealisiren hat. Seine Aufgabe ist, großer Leidenschaft auch großen Ausdruck zu geben. Er hat da¬ bei zum Gehilfen den Darsteller, also die leidenschaftlichen Accente der Stimme, Gestalt, Mimik und Geberde. Trotz dieser reichen Mittel vermag er fast niemals, und grabe in den Momenten höherer Leidenschaft nicht, die ent¬ sprechenden Erscheinungen des wirklichen Lebens ohne große Veränderungen zu verwenden, wie stark und schön und wirksam sich dort bei starken Naturen auch die Leidenschaft ausspreche, und wie sehr sie dem zufälligen Beobachter imponire. Auf der Bühne soll die Erscheinung in die Entfernung wirken. Selbst beim kleinen Theater ist ein verhältnißmäßig großer Zuschauerraum mit dem Ausdruck der Leidenschaft zu füllen, grade die feinsten Accente aber des wirkliche» Gefühls in Stimme, Blick, selbst in der Haltung werden dem Publicum schon der Entfernung wegen durchaus nicht so deutlich und imponirend. als sie im Leben sind. Und ferner, es ist die Aufgabe des Dra¬ mas, ein solches Arbeiten der Leidenschaft in allen Momenten verständlich und eindringlich zu machen; denn es ist nicht die Leidenschaft selbst, welche wirkt, sondern die dramatische Schilderung derselben durch Rede und Mimik; immer sind die Charaktere der Bühne bestrebt, ihr Inneres dem Publicum zuzu¬ kehren. Sie ^müssen deshalb für die Wirkung auswählen, und wieder ver¬ zichten, manches Jmponirende zu verwenden. Die flüchtigen Gedanken, welche in der Seele des Leidenschaftliche.« durcheinander zucken, Schlüsse, welche mit der Schnelligkeit des Blitzes gemacht werden, die in großer Zahl wechselnden Scelenbewegungen, welche bald undeutlicher, bald lebendiger zu Tage kommen, sie alle in ihrer ungeordneten Fülle, ihrem schnellen Wechsel, oft unvoll¬ kommenen Ausdruck, vermag die Kunst so nicht zu häufen. Sie braucht für jede Vorstellung, jede starke Empfindung eine gewisse Zahl imponirender Worte und Gebcroen, die Verbindung derselben durch Uebergänge oder in scharfen Contrasten erfordert ebenfalls ein zweckvolles Spiel, jedes einzelne

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/196
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/196>, abgerufen am 22.07.2024.