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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Motiven, den Situationen, Vieles sein, was nicht nur allgemein menschlich und
verständlich ist, sondern außerdem das Besondere und Charakteristische jener Zeit
ausprägt. Wo z. B. Königsmord durch ehrgeizige Helden verübt wird, wie in
Macbeth oder Richard, wo der Intrigant seine Gegner mit Gift und Dolch
angreift, wo die Gattin eines Fürsten ins Wasser gestürzt wird, weil sie ein
Bürgerkiud ist, in diesen und unzähligen andern Fällen wird die Befangenheit
der Individuen aus der dargestellten Begebenheit mehr als aus jeder Lebens¬
äußerung der Rolle sichtbar werden müssen. Gehören nun aber die Indi¬
viduen einer Zeit an, welche wir hier die epische nennen wollen, wo in der
Wirklichkeit die Reflexion noch wenig entwickelt, die Abhängigkeit der Einzelnen
von dem Beispiele Anderer, von Sitte und Brauch sehr viel größer ist, wo
das Innere des Menschen nicht ärmer an starken Gefühlen, aber viel ärmer
an der Fähigkeit ist, dieselben durch die Sprache auszudrücken, so werden die
Charaktere des Drama's eine solche Befangenheit in der Hauptsache gar nicht
darstellen dürfen. Denn da auf der Bühne nicht die Thaten wirken und nicht
die schönen Reden, sondern die Darstellung der Gemüthsprocesse, durch welche
das Empfinden sich zum Wollen und zur That verdichtet, so müssen die dra¬
matischen Hauptcharaktere einen Grad von innerer Freiheit, eine Bildung und
eine Dialektik der Leidenschaft zeigen, welche in innerlichsten Gegensähe steht
zu der thatsächlichen Befangenheit und Naivetät ihrer alten Vorbilder in der
Wirklichkeit. Nun würde dem Künstler allerdings leicht verziehen, daß er
seine Gestalten mit einem stürkern und reichern Leben anfüllt, als sie in Wirk¬
lichkeit hatten. Wenn nur nicht dieser reichere Inhalt deshalb den Eindruck
der Unwahrheit machte, weil einzelne BorausseMngen der dargestellten Hand¬
lung ein so gebildetes Wesen der Hauptcharaktere gar nicht vertragen. Denn
die Handlung, welche doch aus der Geschichte oder Sage entnommen ist, und
überall den sittlichen' Inhalt, den Grad der Bildung, die Eigenthümlichkeit
ihrer Zeit verräth, vermag der^Dichter nicht immer ebenso gut mit tieferem Inhalt
SU füllen, als den einzelnen Charakter. Der Dichter kann z. B. einem Ori¬
entalen die feinsten Reflexionen und zartesten Empfindungen süßer Leiden¬
schaft in den Mund legen, und doch den Charakter so färben, daß'er den schönen
Schein der Kunstwahrheit erhält; nun aber macht die Handlung vielleicht
nothwendig, daß derselbe Charakter die Frauen seines Harems Säcken lasse oder
ein großes Kopfabschneiden befehle --und die innere Differenz zwischen Hand¬
lung und Charakter wird aufbrechen. Das ist in der That eine Schwierig¬
keit des dramatischen Schaffens, welche zuweilen auch von dem größten Ta¬
lent nicht ganz überwunden werden mag; dann bedarf es aller Kunst, um
bei so spröden Stoffen dem Hörer diese stille Differenz zwischen Stoff und Lebens-
bedürfniß des Drama's zu verdecken. Goethe's Iphigenie ist ein berühmtes
Beispiel. Die vornehme Menschlichkeit, welche in den Charakteren dieses


Grenzboten II, 1861, 24

Motiven, den Situationen, Vieles sein, was nicht nur allgemein menschlich und
verständlich ist, sondern außerdem das Besondere und Charakteristische jener Zeit
ausprägt. Wo z. B. Königsmord durch ehrgeizige Helden verübt wird, wie in
Macbeth oder Richard, wo der Intrigant seine Gegner mit Gift und Dolch
angreift, wo die Gattin eines Fürsten ins Wasser gestürzt wird, weil sie ein
Bürgerkiud ist, in diesen und unzähligen andern Fällen wird die Befangenheit
der Individuen aus der dargestellten Begebenheit mehr als aus jeder Lebens¬
äußerung der Rolle sichtbar werden müssen. Gehören nun aber die Indi¬
viduen einer Zeit an, welche wir hier die epische nennen wollen, wo in der
Wirklichkeit die Reflexion noch wenig entwickelt, die Abhängigkeit der Einzelnen
von dem Beispiele Anderer, von Sitte und Brauch sehr viel größer ist, wo
das Innere des Menschen nicht ärmer an starken Gefühlen, aber viel ärmer
an der Fähigkeit ist, dieselben durch die Sprache auszudrücken, so werden die
Charaktere des Drama's eine solche Befangenheit in der Hauptsache gar nicht
darstellen dürfen. Denn da auf der Bühne nicht die Thaten wirken und nicht
die schönen Reden, sondern die Darstellung der Gemüthsprocesse, durch welche
das Empfinden sich zum Wollen und zur That verdichtet, so müssen die dra¬
matischen Hauptcharaktere einen Grad von innerer Freiheit, eine Bildung und
eine Dialektik der Leidenschaft zeigen, welche in innerlichsten Gegensähe steht
zu der thatsächlichen Befangenheit und Naivetät ihrer alten Vorbilder in der
Wirklichkeit. Nun würde dem Künstler allerdings leicht verziehen, daß er
seine Gestalten mit einem stürkern und reichern Leben anfüllt, als sie in Wirk¬
lichkeit hatten. Wenn nur nicht dieser reichere Inhalt deshalb den Eindruck
der Unwahrheit machte, weil einzelne BorausseMngen der dargestellten Hand¬
lung ein so gebildetes Wesen der Hauptcharaktere gar nicht vertragen. Denn
die Handlung, welche doch aus der Geschichte oder Sage entnommen ist, und
überall den sittlichen' Inhalt, den Grad der Bildung, die Eigenthümlichkeit
ihrer Zeit verräth, vermag der^Dichter nicht immer ebenso gut mit tieferem Inhalt
SU füllen, als den einzelnen Charakter. Der Dichter kann z. B. einem Ori¬
entalen die feinsten Reflexionen und zartesten Empfindungen süßer Leiden¬
schaft in den Mund legen, und doch den Charakter so färben, daß'er den schönen
Schein der Kunstwahrheit erhält; nun aber macht die Handlung vielleicht
nothwendig, daß derselbe Charakter die Frauen seines Harems Säcken lasse oder
ein großes Kopfabschneiden befehle —und die innere Differenz zwischen Hand¬
lung und Charakter wird aufbrechen. Das ist in der That eine Schwierig¬
keit des dramatischen Schaffens, welche zuweilen auch von dem größten Ta¬
lent nicht ganz überwunden werden mag; dann bedarf es aller Kunst, um
bei so spröden Stoffen dem Hörer diese stille Differenz zwischen Stoff und Lebens-
bedürfniß des Drama's zu verdecken. Goethe's Iphigenie ist ein berühmtes
Beispiel. Die vornehme Menschlichkeit, welche in den Charakteren dieses


Grenzboten II, 1861, 24
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/195>, abgerufen am 22.07.2024.