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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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mit der Lection vom aufsätzigen Naeman und dem Evangelium von den zehn
Aussätzigen.

Auf einem Tische lagen Gewand und Geräthe für den Sondersiechen be¬
reit. Diese wurden eingesegnet und dann unter Gebetsworten dem Kranken
dargereicht. So hieß es bei Ueberreichung des Kleides: "Nimm dieses Kleid
und ziehe es an als ein Zeichen der Demuth; niemals sollst du ohne solches
deine Wohnung verlassen. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des
heiligen Geistes." Bei Uebergabe des Füßchens: "Nimm dieses, um das¬
jenige hinein zu thun, was du zu trinken empfangen wirst. Bei Strafe des
Ungehorsams sei es dir untersagt, aus Flüssen, Springquellen und öffentlichen
Wasserbehältern zu trinken, dich darin wie immer zu waschen oder deine Tü¬
cher, Hemden oder was immer deinen Leib berührt hat, darin zu reinigen."
-- Bei der Klapper: "Nimm diese Klapper zum Zeichen, daß es dir verboten
ist, mit Anderen als mit Deinesgleichen zu reden, es sei denn in der höch¬
sten Noth. Hast du irgend etwas nöthig, so mache mit dem Schalle dieser
Klapper auf deine Bitte aufmerksam, indem du dich dabei von den Menschen
entfernst und unter dem Winde aufstellst." -- Bei den Handschuhen: "Nimm
diese, durchweiche es dir verboten wird, etwas mit bloßer Hand anzurühren,
was nicht dir gehört." -- Bei dein Brodsacke: "Nimm diesen Sack, um hinein
zu thun, was dir wohlthätige Menschen schenken, und vergiß nicht, für deine
Wohlthäter zu beten."

Hierauf sammelte man das Almosen sür den armen Kranken und führte
ihn processionswcise unter Abbetung der Litanei, des Miserere oder Libera in
die ihm bestimmte Sonderwohnung, entweder in einer Anstalt oder auf freiem
Felde, wo man dem Lazarus auf vier Pfählen eine Hütte errichtet hatte, neben
welcher er nach seinem Tode begraben und diese- sammt seinen Utensilien den
Flammen übergeben werden sollte. Das waren dann die "Feldsiechen."

Hier angekommen, wurden ihm die Psalmesworte: "Da ist meine Ruhe¬
stätte für immer, ich werde sie bewohnen, sie ist der Gegenstand meiner Wünsche"
zugerufen. Waren ihm die verschiedenen Verbote, die wir bereits kennen,
nicht schon angekündigt worden, so geschah es jetzt. Hatte die Ceremonie den
Charakter als Leichenfeier, so wurde Kirchhoferde aus sein Haupt gestreut,
dann ihm noch einmal Trost und Hoffnung zugesprochen, endlich das Bild
des Gekreuzigten, bisweilen auch eine Armenbüchse an die Thür seiner Woh¬
nung befestigt. Das umstehende Volk wurde zur Barmherzigkeit und zu theil¬
nehmender Liebe gegen den Unglücklichen aufgefordert und den Eltern des¬
selben anempfohlen, wenigstens während der nächsten dreißig Stunden zur
Hilfeleistung bereit zu sein, bis jener sich in das einsame ungewohnte Leben
gefunden habe. Volk und Priester aber begaben sich wieder in die Kirche
zurück, um vor dem Altare mit folgendem Gebete zu enden: "Allmächtiger


mit der Lection vom aufsätzigen Naeman und dem Evangelium von den zehn
Aussätzigen.

Auf einem Tische lagen Gewand und Geräthe für den Sondersiechen be¬
reit. Diese wurden eingesegnet und dann unter Gebetsworten dem Kranken
dargereicht. So hieß es bei Ueberreichung des Kleides: „Nimm dieses Kleid
und ziehe es an als ein Zeichen der Demuth; niemals sollst du ohne solches
deine Wohnung verlassen. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des
heiligen Geistes." Bei Uebergabe des Füßchens: „Nimm dieses, um das¬
jenige hinein zu thun, was du zu trinken empfangen wirst. Bei Strafe des
Ungehorsams sei es dir untersagt, aus Flüssen, Springquellen und öffentlichen
Wasserbehältern zu trinken, dich darin wie immer zu waschen oder deine Tü¬
cher, Hemden oder was immer deinen Leib berührt hat, darin zu reinigen."
— Bei der Klapper: „Nimm diese Klapper zum Zeichen, daß es dir verboten
ist, mit Anderen als mit Deinesgleichen zu reden, es sei denn in der höch¬
sten Noth. Hast du irgend etwas nöthig, so mache mit dem Schalle dieser
Klapper auf deine Bitte aufmerksam, indem du dich dabei von den Menschen
entfernst und unter dem Winde aufstellst." — Bei den Handschuhen: „Nimm
diese, durchweiche es dir verboten wird, etwas mit bloßer Hand anzurühren,
was nicht dir gehört." — Bei dein Brodsacke: „Nimm diesen Sack, um hinein
zu thun, was dir wohlthätige Menschen schenken, und vergiß nicht, für deine
Wohlthäter zu beten."

Hierauf sammelte man das Almosen sür den armen Kranken und führte
ihn processionswcise unter Abbetung der Litanei, des Miserere oder Libera in
die ihm bestimmte Sonderwohnung, entweder in einer Anstalt oder auf freiem
Felde, wo man dem Lazarus auf vier Pfählen eine Hütte errichtet hatte, neben
welcher er nach seinem Tode begraben und diese- sammt seinen Utensilien den
Flammen übergeben werden sollte. Das waren dann die „Feldsiechen."

Hier angekommen, wurden ihm die Psalmesworte: „Da ist meine Ruhe¬
stätte für immer, ich werde sie bewohnen, sie ist der Gegenstand meiner Wünsche"
zugerufen. Waren ihm die verschiedenen Verbote, die wir bereits kennen,
nicht schon angekündigt worden, so geschah es jetzt. Hatte die Ceremonie den
Charakter als Leichenfeier, so wurde Kirchhoferde aus sein Haupt gestreut,
dann ihm noch einmal Trost und Hoffnung zugesprochen, endlich das Bild
des Gekreuzigten, bisweilen auch eine Armenbüchse an die Thür seiner Woh¬
nung befestigt. Das umstehende Volk wurde zur Barmherzigkeit und zu theil¬
nehmender Liebe gegen den Unglücklichen aufgefordert und den Eltern des¬
selben anempfohlen, wenigstens während der nächsten dreißig Stunden zur
Hilfeleistung bereit zu sein, bis jener sich in das einsame ungewohnte Leben
gefunden habe. Volk und Priester aber begaben sich wieder in die Kirche
zurück, um vor dem Altare mit folgendem Gebete zu enden: „Allmächtiger


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[0162] mit der Lection vom aufsätzigen Naeman und dem Evangelium von den zehn Aussätzigen. Auf einem Tische lagen Gewand und Geräthe für den Sondersiechen be¬ reit. Diese wurden eingesegnet und dann unter Gebetsworten dem Kranken dargereicht. So hieß es bei Ueberreichung des Kleides: „Nimm dieses Kleid und ziehe es an als ein Zeichen der Demuth; niemals sollst du ohne solches deine Wohnung verlassen. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes." Bei Uebergabe des Füßchens: „Nimm dieses, um das¬ jenige hinein zu thun, was du zu trinken empfangen wirst. Bei Strafe des Ungehorsams sei es dir untersagt, aus Flüssen, Springquellen und öffentlichen Wasserbehältern zu trinken, dich darin wie immer zu waschen oder deine Tü¬ cher, Hemden oder was immer deinen Leib berührt hat, darin zu reinigen." — Bei der Klapper: „Nimm diese Klapper zum Zeichen, daß es dir verboten ist, mit Anderen als mit Deinesgleichen zu reden, es sei denn in der höch¬ sten Noth. Hast du irgend etwas nöthig, so mache mit dem Schalle dieser Klapper auf deine Bitte aufmerksam, indem du dich dabei von den Menschen entfernst und unter dem Winde aufstellst." — Bei den Handschuhen: „Nimm diese, durchweiche es dir verboten wird, etwas mit bloßer Hand anzurühren, was nicht dir gehört." — Bei dein Brodsacke: „Nimm diesen Sack, um hinein zu thun, was dir wohlthätige Menschen schenken, und vergiß nicht, für deine Wohlthäter zu beten." Hierauf sammelte man das Almosen sür den armen Kranken und führte ihn processionswcise unter Abbetung der Litanei, des Miserere oder Libera in die ihm bestimmte Sonderwohnung, entweder in einer Anstalt oder auf freiem Felde, wo man dem Lazarus auf vier Pfählen eine Hütte errichtet hatte, neben welcher er nach seinem Tode begraben und diese- sammt seinen Utensilien den Flammen übergeben werden sollte. Das waren dann die „Feldsiechen." Hier angekommen, wurden ihm die Psalmesworte: „Da ist meine Ruhe¬ stätte für immer, ich werde sie bewohnen, sie ist der Gegenstand meiner Wünsche" zugerufen. Waren ihm die verschiedenen Verbote, die wir bereits kennen, nicht schon angekündigt worden, so geschah es jetzt. Hatte die Ceremonie den Charakter als Leichenfeier, so wurde Kirchhoferde aus sein Haupt gestreut, dann ihm noch einmal Trost und Hoffnung zugesprochen, endlich das Bild des Gekreuzigten, bisweilen auch eine Armenbüchse an die Thür seiner Woh¬ nung befestigt. Das umstehende Volk wurde zur Barmherzigkeit und zu theil¬ nehmender Liebe gegen den Unglücklichen aufgefordert und den Eltern des¬ selben anempfohlen, wenigstens während der nächsten dreißig Stunden zur Hilfeleistung bereit zu sein, bis jener sich in das einsame ungewohnte Leben gefunden habe. Volk und Priester aber begaben sich wieder in die Kirche zurück, um vor dem Altare mit folgendem Gebete zu enden: „Allmächtiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/162>, abgerufen am 29.06.2024.