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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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empfundenen Charakteren die Handlung zu ccmstruiren, dem Romanen ver¬
schlingen sich leicht und graziös die Fäden derselben zu einem kunstvollen
Gewebe. Diese Eigenthümlichkeit bedingt auch einen Unterschied in der
Fruchtbarkeit und in dem Werthe der Dramen. Die Literatur der Romanen hat
nichts, was sie den höchsten Leistungen des germanischen Geistes an die Seite
setzen kann; aber den schwächern Talenten unseres Volkes gedeiht bei ihrer An¬
lage häufig kein brauchbares Theaterstück. Einzelne Scenen, einzelne Perso¬
nen erwärmen und fesseln, dem Ganzen fehlt die saubere, interessante, span¬
nende Ausführung. Den Fremden gelingt das Mittelgut besser, auch da, wo
weder Ideen noch Charaktere Anspruch auf dichterischen Werth haben, unter¬
hält noch die kluge Erfindung der Intrigue, die energische Verbindung der
Personen zu bewegtem Leben., Während bei den Germanen jenes höchste
Dramatische: das Durcharbeiten der Empfindung in der Seele bis zur That
seltener, aber dann mit unwiderstehlicher Kraft und Schönheit sich ausprägt,
ist bei den Romanen weit häusiger und fruchtbarer die zweite Eigenschaft des-
dramatischen Schaffens: das Spiel der Gegensätze, die affectvolle Darstellung
des Kampfes, welchen die Umgebung des Helden gegen die Beschränktheiten des¬
selben führt.

Ferner aber ist bei jedem einzelnen Dichter die Art des Charakterisirens eine
verschiedene, verschieden sein Reichthum an Gestalten, ebenso die Art. wie er
ihr Wesen dem Publicum darlegt. Auch hier ist Shakespeare der reichste und
tiefste der Schaffenden, nicht ohne eine Eigenthümlichkeit, welche .uns zuweilen
in Verwirrung setzt. Wir sind geneigt, anzunehmen,'und wissen aus vielen
Nachrichten, daß sein Publicum nicht vorzugsweise aus den scharfsinnigen
und Gebildeten Altenglands bestand, wir sind also berechtigt, vorauszusetzen,
daß er seinen Charakteren ein einfaches Gewebe geben, und ihre Stellung zu
der Idee des Dramas nach allen Seiten hin genau exponiren werde. Das
geschieht nicht immer. Zwar bleibt der Hörer bei den Haupthelden Shakespeares
"le über die Motive ihres Handelns im Irrthum, ja die volle Größe seiner
Dichterkraft kommt grade dadurch zur Erscheinung. daß er in den Hauptcharak¬
teren die Processe der Seele von der ersten aufsteigenden Empfindung bis zum
Höhenpunkte der Leidenschaft mit dämonischer Kraft und Wahrheit auszudrücken
weiß, wie kein Anderer. Auch die vorwärts treibenden Gegenspieler seiner
Dramen; z. B. Jago, Shylok. verfehlen nicht, das Publicum zu Vertrauten
ihres Wollens zu machen. Und wol darf man sagen, daß die Charaktere
Shakespeares, deren Leidenschaft doch die höchsten, Wellen schlägt, zugleich
wehr als die Gebilde irgend eines andern Dichters gestatten, tief hinab irr ihr
Innerstes zu blicken. Aber diese Tiefe ist für die Augen des darstellenden Künstlers
Wie die des Hörers zuweilen unergründlich, und seine Charaktere sind in ihrem letz¬
ten Grunde durchaus nicht immer so durchsichtig und einfach, wie sie flüchtigen Augen


empfundenen Charakteren die Handlung zu ccmstruiren, dem Romanen ver¬
schlingen sich leicht und graziös die Fäden derselben zu einem kunstvollen
Gewebe. Diese Eigenthümlichkeit bedingt auch einen Unterschied in der
Fruchtbarkeit und in dem Werthe der Dramen. Die Literatur der Romanen hat
nichts, was sie den höchsten Leistungen des germanischen Geistes an die Seite
setzen kann; aber den schwächern Talenten unseres Volkes gedeiht bei ihrer An¬
lage häufig kein brauchbares Theaterstück. Einzelne Scenen, einzelne Perso¬
nen erwärmen und fesseln, dem Ganzen fehlt die saubere, interessante, span¬
nende Ausführung. Den Fremden gelingt das Mittelgut besser, auch da, wo
weder Ideen noch Charaktere Anspruch auf dichterischen Werth haben, unter¬
hält noch die kluge Erfindung der Intrigue, die energische Verbindung der
Personen zu bewegtem Leben., Während bei den Germanen jenes höchste
Dramatische: das Durcharbeiten der Empfindung in der Seele bis zur That
seltener, aber dann mit unwiderstehlicher Kraft und Schönheit sich ausprägt,
ist bei den Romanen weit häusiger und fruchtbarer die zweite Eigenschaft des-
dramatischen Schaffens: das Spiel der Gegensätze, die affectvolle Darstellung
des Kampfes, welchen die Umgebung des Helden gegen die Beschränktheiten des¬
selben führt.

Ferner aber ist bei jedem einzelnen Dichter die Art des Charakterisirens eine
verschiedene, verschieden sein Reichthum an Gestalten, ebenso die Art. wie er
ihr Wesen dem Publicum darlegt. Auch hier ist Shakespeare der reichste und
tiefste der Schaffenden, nicht ohne eine Eigenthümlichkeit, welche .uns zuweilen
in Verwirrung setzt. Wir sind geneigt, anzunehmen,'und wissen aus vielen
Nachrichten, daß sein Publicum nicht vorzugsweise aus den scharfsinnigen
und Gebildeten Altenglands bestand, wir sind also berechtigt, vorauszusetzen,
daß er seinen Charakteren ein einfaches Gewebe geben, und ihre Stellung zu
der Idee des Dramas nach allen Seiten hin genau exponiren werde. Das
geschieht nicht immer. Zwar bleibt der Hörer bei den Haupthelden Shakespeares
"le über die Motive ihres Handelns im Irrthum, ja die volle Größe seiner
Dichterkraft kommt grade dadurch zur Erscheinung. daß er in den Hauptcharak¬
teren die Processe der Seele von der ersten aufsteigenden Empfindung bis zum
Höhenpunkte der Leidenschaft mit dämonischer Kraft und Wahrheit auszudrücken
weiß, wie kein Anderer. Auch die vorwärts treibenden Gegenspieler seiner
Dramen; z. B. Jago, Shylok. verfehlen nicht, das Publicum zu Vertrauten
ihres Wollens zu machen. Und wol darf man sagen, daß die Charaktere
Shakespeares, deren Leidenschaft doch die höchsten, Wellen schlägt, zugleich
wehr als die Gebilde irgend eines andern Dichters gestatten, tief hinab irr ihr
Innerstes zu blicken. Aber diese Tiefe ist für die Augen des darstellenden Künstlers
Wie die des Hörers zuweilen unergründlich, und seine Charaktere sind in ihrem letz¬
ten Grunde durchaus nicht immer so durchsichtig und einfach, wie sie flüchtigen Augen


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[0151] empfundenen Charakteren die Handlung zu ccmstruiren, dem Romanen ver¬ schlingen sich leicht und graziös die Fäden derselben zu einem kunstvollen Gewebe. Diese Eigenthümlichkeit bedingt auch einen Unterschied in der Fruchtbarkeit und in dem Werthe der Dramen. Die Literatur der Romanen hat nichts, was sie den höchsten Leistungen des germanischen Geistes an die Seite setzen kann; aber den schwächern Talenten unseres Volkes gedeiht bei ihrer An¬ lage häufig kein brauchbares Theaterstück. Einzelne Scenen, einzelne Perso¬ nen erwärmen und fesseln, dem Ganzen fehlt die saubere, interessante, span¬ nende Ausführung. Den Fremden gelingt das Mittelgut besser, auch da, wo weder Ideen noch Charaktere Anspruch auf dichterischen Werth haben, unter¬ hält noch die kluge Erfindung der Intrigue, die energische Verbindung der Personen zu bewegtem Leben., Während bei den Germanen jenes höchste Dramatische: das Durcharbeiten der Empfindung in der Seele bis zur That seltener, aber dann mit unwiderstehlicher Kraft und Schönheit sich ausprägt, ist bei den Romanen weit häusiger und fruchtbarer die zweite Eigenschaft des- dramatischen Schaffens: das Spiel der Gegensätze, die affectvolle Darstellung des Kampfes, welchen die Umgebung des Helden gegen die Beschränktheiten des¬ selben führt. Ferner aber ist bei jedem einzelnen Dichter die Art des Charakterisirens eine verschiedene, verschieden sein Reichthum an Gestalten, ebenso die Art. wie er ihr Wesen dem Publicum darlegt. Auch hier ist Shakespeare der reichste und tiefste der Schaffenden, nicht ohne eine Eigenthümlichkeit, welche .uns zuweilen in Verwirrung setzt. Wir sind geneigt, anzunehmen,'und wissen aus vielen Nachrichten, daß sein Publicum nicht vorzugsweise aus den scharfsinnigen und Gebildeten Altenglands bestand, wir sind also berechtigt, vorauszusetzen, daß er seinen Charakteren ein einfaches Gewebe geben, und ihre Stellung zu der Idee des Dramas nach allen Seiten hin genau exponiren werde. Das geschieht nicht immer. Zwar bleibt der Hörer bei den Haupthelden Shakespeares "le über die Motive ihres Handelns im Irrthum, ja die volle Größe seiner Dichterkraft kommt grade dadurch zur Erscheinung. daß er in den Hauptcharak¬ teren die Processe der Seele von der ersten aufsteigenden Empfindung bis zum Höhenpunkte der Leidenschaft mit dämonischer Kraft und Wahrheit auszudrücken weiß, wie kein Anderer. Auch die vorwärts treibenden Gegenspieler seiner Dramen; z. B. Jago, Shylok. verfehlen nicht, das Publicum zu Vertrauten ihres Wollens zu machen. Und wol darf man sagen, daß die Charaktere Shakespeares, deren Leidenschaft doch die höchsten, Wellen schlägt, zugleich wehr als die Gebilde irgend eines andern Dichters gestatten, tief hinab irr ihr Innerstes zu blicken. Aber diese Tiefe ist für die Augen des darstellenden Künstlers Wie die des Hörers zuweilen unergründlich, und seine Charaktere sind in ihrem letz¬ ten Grunde durchaus nicht immer so durchsichtig und einfach, wie sie flüchtigen Augen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/151>, abgerufen am 19.10.2024.