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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Thun Anderer umgestaltend einzuwirken. Er soll in starker Befangen¬
heit, Spannung und Wandlung erscheinen, vorzugsweise die menschlichen
Kräfte werden bei ihm in Thätigkeit dargestellt, welche im Kampf mit ande¬
ren Menschen zur Geltung kommen. Energie der Empfindung, Wucht der
Willenskraft. Beschränktheit durch leidenschaftliches Begehren, grade die Eigen¬
schaften, welche den Charakter bilden und durch den Charakter verständlich
werden. Es geschieht also nicht ohne Grund, daß die Kunstsprache kurzweg
die Personen des Dramas Charaktere nennt.

Die Methode der dramatischen Charakterbildung durch die Dichter zeigt
die größte Mannigfaltigkeit. Sie ist zunächst nach Zeiten und Völkern ver¬
schieden. Sehr verschieden bei Romanen und Germanen. Das Behagen am
charakterisirenden Detail ist von je bei den Germanen größer gewesen, bei
den Romanen größer die Freude an der zweckvollen Gebundenheit der Indi¬
viduen durch eine kunstvoll verschlungene Handlung. Tiefer faßt der Deutsche
seine Kunstgebilde, ein reicheres inneres Leben sucht er an ihnen zur Dar¬
stellung zu bringen, das Eigenthümliche, ja Absonderliche hat für ihn großen
Reiz, ihm ist Genuß, in das Beschränkte und Besondere etwas von
der souveränen Gewalt des allgemein Menschlichen hinein zu legen und auch
das Zufällige und Kleine dadurch zu verklären. Der Romane aber empfindet das
Beschränkte des Einzelnen vorzugsweise vom Standpunkt der Convenienz und
Zweckmäßigkeit, er macht die Gesellschaft, nicht wie der Deutsche das innere
Leben des Individuums, zum Mittelpunkt, ihn freut es, fertige Personen, oft
nur mit flüchtigem Umriß der Charaktere, einander gegenüber zu stellen; ihre
verschiedenen Tendenzen sind es, wodurch sie im Gegenspiel zu einander
interessant werden. Auch da. wo detaillirte Darstellung eines Charakters, wie
bei Moliere, die besondere Aufgabe ist. und wo das Detail der Charakteristik
hohe Bewunderung abnöthigt, sind diese Charaktere, der Geizige, der Heuchler, meist
innerlich fertig, sie Präsentiren sich mit einer zuletzt ermüdenden Eintönigkeit in
verschiedenen gesellschaftlichen Beziehungen, sie werden trotz der Vortrefflichkeit
der Zeichnung unsrer Bühne immer fremder werden, weil ihnen das höchste
dramatische Leben fehlt, das Werden des Charakters. Wir wollen sehen,
wie einer geizig wird, nicht wie er es ist.

Was also dem Germanen die Seele füllt, einen Stoff lieb macht
und zur Production reizt, ist vorzugsweise die originelle Charakterbewcgung
der Hauptfiguren, ihm gehen in schaffender Seele zuerst die Charaktere auf,
zu diesen erfindet er die Handlung, aus ihnen strahlt Farbe, Licht und
Wärme auf die Nebenfiguren; den Romanen lockt stärker die interessante Ver¬
bindung der Handlung, die Unterordnung des Individuums unter den Zwang
des Ganzen, die Spannung, die Situationen. Alt ist dieser Gegensatz, er
dauert bis zur Gegenwart. Dem Deutschen wird es schwerer, zu den tief


Thun Anderer umgestaltend einzuwirken. Er soll in starker Befangen¬
heit, Spannung und Wandlung erscheinen, vorzugsweise die menschlichen
Kräfte werden bei ihm in Thätigkeit dargestellt, welche im Kampf mit ande¬
ren Menschen zur Geltung kommen. Energie der Empfindung, Wucht der
Willenskraft. Beschränktheit durch leidenschaftliches Begehren, grade die Eigen¬
schaften, welche den Charakter bilden und durch den Charakter verständlich
werden. Es geschieht also nicht ohne Grund, daß die Kunstsprache kurzweg
die Personen des Dramas Charaktere nennt.

Die Methode der dramatischen Charakterbildung durch die Dichter zeigt
die größte Mannigfaltigkeit. Sie ist zunächst nach Zeiten und Völkern ver¬
schieden. Sehr verschieden bei Romanen und Germanen. Das Behagen am
charakterisirenden Detail ist von je bei den Germanen größer gewesen, bei
den Romanen größer die Freude an der zweckvollen Gebundenheit der Indi¬
viduen durch eine kunstvoll verschlungene Handlung. Tiefer faßt der Deutsche
seine Kunstgebilde, ein reicheres inneres Leben sucht er an ihnen zur Dar¬
stellung zu bringen, das Eigenthümliche, ja Absonderliche hat für ihn großen
Reiz, ihm ist Genuß, in das Beschränkte und Besondere etwas von
der souveränen Gewalt des allgemein Menschlichen hinein zu legen und auch
das Zufällige und Kleine dadurch zu verklären. Der Romane aber empfindet das
Beschränkte des Einzelnen vorzugsweise vom Standpunkt der Convenienz und
Zweckmäßigkeit, er macht die Gesellschaft, nicht wie der Deutsche das innere
Leben des Individuums, zum Mittelpunkt, ihn freut es, fertige Personen, oft
nur mit flüchtigem Umriß der Charaktere, einander gegenüber zu stellen; ihre
verschiedenen Tendenzen sind es, wodurch sie im Gegenspiel zu einander
interessant werden. Auch da. wo detaillirte Darstellung eines Charakters, wie
bei Moliere, die besondere Aufgabe ist. und wo das Detail der Charakteristik
hohe Bewunderung abnöthigt, sind diese Charaktere, der Geizige, der Heuchler, meist
innerlich fertig, sie Präsentiren sich mit einer zuletzt ermüdenden Eintönigkeit in
verschiedenen gesellschaftlichen Beziehungen, sie werden trotz der Vortrefflichkeit
der Zeichnung unsrer Bühne immer fremder werden, weil ihnen das höchste
dramatische Leben fehlt, das Werden des Charakters. Wir wollen sehen,
wie einer geizig wird, nicht wie er es ist.

Was also dem Germanen die Seele füllt, einen Stoff lieb macht
und zur Production reizt, ist vorzugsweise die originelle Charakterbewcgung
der Hauptfiguren, ihm gehen in schaffender Seele zuerst die Charaktere auf,
zu diesen erfindet er die Handlung, aus ihnen strahlt Farbe, Licht und
Wärme auf die Nebenfiguren; den Romanen lockt stärker die interessante Ver¬
bindung der Handlung, die Unterordnung des Individuums unter den Zwang
des Ganzen, die Spannung, die Situationen. Alt ist dieser Gegensatz, er
dauert bis zur Gegenwart. Dem Deutschen wird es schwerer, zu den tief


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[0150] Thun Anderer umgestaltend einzuwirken. Er soll in starker Befangen¬ heit, Spannung und Wandlung erscheinen, vorzugsweise die menschlichen Kräfte werden bei ihm in Thätigkeit dargestellt, welche im Kampf mit ande¬ ren Menschen zur Geltung kommen. Energie der Empfindung, Wucht der Willenskraft. Beschränktheit durch leidenschaftliches Begehren, grade die Eigen¬ schaften, welche den Charakter bilden und durch den Charakter verständlich werden. Es geschieht also nicht ohne Grund, daß die Kunstsprache kurzweg die Personen des Dramas Charaktere nennt. Die Methode der dramatischen Charakterbildung durch die Dichter zeigt die größte Mannigfaltigkeit. Sie ist zunächst nach Zeiten und Völkern ver¬ schieden. Sehr verschieden bei Romanen und Germanen. Das Behagen am charakterisirenden Detail ist von je bei den Germanen größer gewesen, bei den Romanen größer die Freude an der zweckvollen Gebundenheit der Indi¬ viduen durch eine kunstvoll verschlungene Handlung. Tiefer faßt der Deutsche seine Kunstgebilde, ein reicheres inneres Leben sucht er an ihnen zur Dar¬ stellung zu bringen, das Eigenthümliche, ja Absonderliche hat für ihn großen Reiz, ihm ist Genuß, in das Beschränkte und Besondere etwas von der souveränen Gewalt des allgemein Menschlichen hinein zu legen und auch das Zufällige und Kleine dadurch zu verklären. Der Romane aber empfindet das Beschränkte des Einzelnen vorzugsweise vom Standpunkt der Convenienz und Zweckmäßigkeit, er macht die Gesellschaft, nicht wie der Deutsche das innere Leben des Individuums, zum Mittelpunkt, ihn freut es, fertige Personen, oft nur mit flüchtigem Umriß der Charaktere, einander gegenüber zu stellen; ihre verschiedenen Tendenzen sind es, wodurch sie im Gegenspiel zu einander interessant werden. Auch da. wo detaillirte Darstellung eines Charakters, wie bei Moliere, die besondere Aufgabe ist. und wo das Detail der Charakteristik hohe Bewunderung abnöthigt, sind diese Charaktere, der Geizige, der Heuchler, meist innerlich fertig, sie Präsentiren sich mit einer zuletzt ermüdenden Eintönigkeit in verschiedenen gesellschaftlichen Beziehungen, sie werden trotz der Vortrefflichkeit der Zeichnung unsrer Bühne immer fremder werden, weil ihnen das höchste dramatische Leben fehlt, das Werden des Charakters. Wir wollen sehen, wie einer geizig wird, nicht wie er es ist. Was also dem Germanen die Seele füllt, einen Stoff lieb macht und zur Production reizt, ist vorzugsweise die originelle Charakterbewcgung der Hauptfiguren, ihm gehen in schaffender Seele zuerst die Charaktere auf, zu diesen erfindet er die Handlung, aus ihnen strahlt Farbe, Licht und Wärme auf die Nebenfiguren; den Romanen lockt stärker die interessante Ver¬ bindung der Handlung, die Unterordnung des Individuums unter den Zwang des Ganzen, die Spannung, die Situationen. Alt ist dieser Gegensatz, er dauert bis zur Gegenwart. Dem Deutschen wird es schwerer, zu den tief

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/150>, abgerufen am 27.09.2024.