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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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erscheinen, ja mehre von ihnen haben etwas besonders Rätselhaftes und
schwer Verständliches, welches ewig zur Deutung lockt und doch niemals ganz
erfaßt werden kann. Auch nach anderer Richtung macht es der große Dichter
uns nicht leicht. In vielen Nebenrollen steht er auffallend schweigsam, mit
einfachen Strichen bewegt er in ihrer Befangenheit vorwärts, das Ver¬
ständniß ihres Wesens, das wir angelegentlich suchen, bleibt zuletzt nicht zweifel¬
haft, es wird aber nur star aus Reflexen, welche von außen auf sie fallen,
So sind z. B. die Gemüthswandlungen der Anna lRichard der Dritte in der
berühmten Sterbescene an der Bahre) in einer Weise gedeckt, welche kein anderer
Dichter wagen dürfte, und die ohnedies knappe Rolle wird dadurch eine der schwer¬
sten. Aehnliches gilt von vielen Gestalten, welche aus Böse und Gut gemischt,
als Helfer einer Handlung auftreten. Bei solchen Nebenrollen überläßt er dem
Schauspieler Vieles; durch die Aufführung vermag der Künstler manche schein¬
bare und wirkliche Härten in neue Schönheiten zu verwandeln. Ja manchmal
hat man die Empfindung, daß er deshalb sparsam in charakteristischen Zügen
war, weil er für bestimmte Schauspieler schrieb, deren Persönlichkeit vorzugs¬
weise gemacht war. die Rolle zu ergänzen. In andern Fällen sieht man deut¬
lich einen Mann, der weit mehr als unsere dramatischen Schriftsteller, Schau¬
spieler und Zuschauer gewöhnt ist, die Menschen in der vornehmen Gesell¬
schaft zu betrachten, und der hinter den Formen guter Sitte die charakteristischen
Beschränktheiten zu verdecken und durchblicken zu lassen versteht; so ist der größte
Theil seiner Hofleute gebildet. Durch solche Schweigsamkeit, durch schroffe
Uebergänge, scheinbare Lücken muthet er dem Schauspieler mehr zu, als jeder
Andere; zuweilen sind seine Worte nur wie der punktirte Grund einer Stickerei,
wenig ist herausgebildet, aber alles liegt darin, genau angedeutet und zweck¬
mäßig für die höchsten Wirkungen der Bühne empfunden; dann erblickt der
Zuschauer überrascht bei guter Darstellung ein reiches rundes Leben, wo er
beim Lesen über eine Fläche hinwegsah. So hat in unsern Tagen die vom
Dichter nicht besonders liebevoll behandelte Rolle des Königs im "Winter¬
märchen" dem Schauspieler Dawison eine seiner wirksamsten Rollen bereitet.
Selten begegnet dem Dichter, daß er in der That zu wenig für einen Character
thut; so tritt die kleine Rolle der Cordelia auch bei guter Darstellung nicht in das
richtige Verhältniß, welches sie im Stück haben sollte. Manches in den Cha¬
rakteren erscheint uns allerdings fremdartig, und eines Commentars bedürftig,
was den Zeitgenossen sehr durchsichtig und schnell verständlich war, als ein Ab¬
bild ihres Lebens und ihrer Bildung.

Das Größte dieses Dichters aber ist die ungeheure treiben^ Kraft, welche
in seinen Hauptcharakteren arbeitet. Unwiderstehlich ist die Gewalt, mit wel¬
cher sie ihrem Schicksal entgegen, bis zu dem Höhenpunkt des Dramas auf¬
wärts stürmen, in allen ein markiges Leben und starke Energie, nicht nur der


erscheinen, ja mehre von ihnen haben etwas besonders Rätselhaftes und
schwer Verständliches, welches ewig zur Deutung lockt und doch niemals ganz
erfaßt werden kann. Auch nach anderer Richtung macht es der große Dichter
uns nicht leicht. In vielen Nebenrollen steht er auffallend schweigsam, mit
einfachen Strichen bewegt er in ihrer Befangenheit vorwärts, das Ver¬
ständniß ihres Wesens, das wir angelegentlich suchen, bleibt zuletzt nicht zweifel¬
haft, es wird aber nur star aus Reflexen, welche von außen auf sie fallen,
So sind z. B. die Gemüthswandlungen der Anna lRichard der Dritte in der
berühmten Sterbescene an der Bahre) in einer Weise gedeckt, welche kein anderer
Dichter wagen dürfte, und die ohnedies knappe Rolle wird dadurch eine der schwer¬
sten. Aehnliches gilt von vielen Gestalten, welche aus Böse und Gut gemischt,
als Helfer einer Handlung auftreten. Bei solchen Nebenrollen überläßt er dem
Schauspieler Vieles; durch die Aufführung vermag der Künstler manche schein¬
bare und wirkliche Härten in neue Schönheiten zu verwandeln. Ja manchmal
hat man die Empfindung, daß er deshalb sparsam in charakteristischen Zügen
war, weil er für bestimmte Schauspieler schrieb, deren Persönlichkeit vorzugs¬
weise gemacht war. die Rolle zu ergänzen. In andern Fällen sieht man deut¬
lich einen Mann, der weit mehr als unsere dramatischen Schriftsteller, Schau¬
spieler und Zuschauer gewöhnt ist, die Menschen in der vornehmen Gesell¬
schaft zu betrachten, und der hinter den Formen guter Sitte die charakteristischen
Beschränktheiten zu verdecken und durchblicken zu lassen versteht; so ist der größte
Theil seiner Hofleute gebildet. Durch solche Schweigsamkeit, durch schroffe
Uebergänge, scheinbare Lücken muthet er dem Schauspieler mehr zu, als jeder
Andere; zuweilen sind seine Worte nur wie der punktirte Grund einer Stickerei,
wenig ist herausgebildet, aber alles liegt darin, genau angedeutet und zweck¬
mäßig für die höchsten Wirkungen der Bühne empfunden; dann erblickt der
Zuschauer überrascht bei guter Darstellung ein reiches rundes Leben, wo er
beim Lesen über eine Fläche hinwegsah. So hat in unsern Tagen die vom
Dichter nicht besonders liebevoll behandelte Rolle des Königs im „Winter¬
märchen" dem Schauspieler Dawison eine seiner wirksamsten Rollen bereitet.
Selten begegnet dem Dichter, daß er in der That zu wenig für einen Character
thut; so tritt die kleine Rolle der Cordelia auch bei guter Darstellung nicht in das
richtige Verhältniß, welches sie im Stück haben sollte. Manches in den Cha¬
rakteren erscheint uns allerdings fremdartig, und eines Commentars bedürftig,
was den Zeitgenossen sehr durchsichtig und schnell verständlich war, als ein Ab¬
bild ihres Lebens und ihrer Bildung.

Das Größte dieses Dichters aber ist die ungeheure treiben^ Kraft, welche
in seinen Hauptcharakteren arbeitet. Unwiderstehlich ist die Gewalt, mit wel¬
cher sie ihrem Schicksal entgegen, bis zu dem Höhenpunkt des Dramas auf¬
wärts stürmen, in allen ein markiges Leben und starke Energie, nicht nur der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/152>, abgerufen am 19.10.2024.