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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Es scheint, daß die östreichische Dynastie den zweiten der beiden mög¬
lichen Wege zu betreten im Begriffe steht. Die Ministcrtnsc. die dabei ge¬
nannten Namen Szecsen, Rieger, Clam Martiniz deuten darauf hin.

Gleichviel, ob bewußt oder unbewußt arbeitet ein solches Vorgehen den
Klcindeutschen in die Hände, kann Preußen kein größerer Gefallen geschehen.
Nachdem aber der Deutsche in Oestreich mit blutendem Herzen gesehen und
immer wieder sich überzeugt hat, daß sich seine Landsleute im Kaiserstaat
ihres Zusammenhanges mit Deutschland nur sehr schwach bewußt sind, und
daß sich seine Landsleute außer Oestreich nachgerade von allen anderen Na¬
tionen an Rührigkeit beim Aufbau nationaler Einheit übertreffen lassen, muß
er froh sein, daß endlich statt des Schwankens eine Bahn betreten wird, daß
seine Landsleute durch argumenta, <?, contrario deutsch gemacht, aus der
Schlaffheit aufgerüttelt und dahin gedrängt werden, ihren gemeinsamen
Mittelpunkt weder in Wien noch in Berlin, sondern durch Berlin in Frank¬
furt zu suchen. -----

Einen ähnlichen Kampf verschiedenartiger Gefühle, ein ähnliches Schwan¬
ken zwischen zwei entgegengesetzten Eventualitäten verräth auch die Mehrzahl
der uns zugegangenen östreichischen Broschüren. Eine derselben, die wir bereits
erwähnt haben: Oestreichs Desorganisation und Reorganisation,
verdient eine eingehende Besprechung; wir kommen auf dieselbe zurück, sobald
wir die Fortsetzung erhalten haben. -- Eine andere: Zur Lösung der Na-
lionalit ätenfragc; ein Mahnruf an die Regierung und die Völ¬
ker Oestreichs, fast die Sache ziemlich sanguinisch auf.. "Die Verschieden¬
heit der Nationalität und Sprache wirkt nicht störend auf die Einheit des
Staats; dies sehen wir an der Schweiz. . . . Die Ungleichheit in verfassungs¬
mäßigen Zuständen und Gesetzen stört mehr die Staatseinheit als die Un¬
gleichheit der Sprache." -- "Die Völker dürfen nie vergessen, daß über der
Nationalität die Menschheit steht, und daß diese einer höhern Weltordnung
folgt, die sich in der Staatenbildung offenbart. Im Staate erst u. s. w."

"Oestreich, als staatlicher Verband von zehn verschiedenen Völkern Isind
denn das alles Völker?1. hat die Doppelaufgabe. allen Völkern das gleiche
Recht zu gewähren und dieses bei jedem einzelnen gleich zu schützen. Oest¬
reich scheint von der Vorsehung ausersehen zu sein, jenen Musterstaat zu bil¬
den, welcher das Nationalitätsprincip in seiner wahren Bedeutung zur Geltung
zu bringen hat." --Eine rühmliche Aufgabe! aber wie sie durchführen, wenn die
betreffenden Völker eulturhistorisch nicht so weit sind', der Regierung darin zu
Hilfe zu kommen? Gegen ihren Willen? --dann haben wir den Absolntisms!
Wären alle Völker vernünftig, ohne Vorurtheile und ohne Leidenschaften, so
brauchten wir überhaupt keine Staaten; Alles würde sich von selbst associiren.


Grenzboten II, 1861. 14

Es scheint, daß die östreichische Dynastie den zweiten der beiden mög¬
lichen Wege zu betreten im Begriffe steht. Die Ministcrtnsc. die dabei ge¬
nannten Namen Szecsen, Rieger, Clam Martiniz deuten darauf hin.

Gleichviel, ob bewußt oder unbewußt arbeitet ein solches Vorgehen den
Klcindeutschen in die Hände, kann Preußen kein größerer Gefallen geschehen.
Nachdem aber der Deutsche in Oestreich mit blutendem Herzen gesehen und
immer wieder sich überzeugt hat, daß sich seine Landsleute im Kaiserstaat
ihres Zusammenhanges mit Deutschland nur sehr schwach bewußt sind, und
daß sich seine Landsleute außer Oestreich nachgerade von allen anderen Na¬
tionen an Rührigkeit beim Aufbau nationaler Einheit übertreffen lassen, muß
er froh sein, daß endlich statt des Schwankens eine Bahn betreten wird, daß
seine Landsleute durch argumenta, <?, contrario deutsch gemacht, aus der
Schlaffheit aufgerüttelt und dahin gedrängt werden, ihren gemeinsamen
Mittelpunkt weder in Wien noch in Berlin, sondern durch Berlin in Frank¬
furt zu suchen. —---

Einen ähnlichen Kampf verschiedenartiger Gefühle, ein ähnliches Schwan¬
ken zwischen zwei entgegengesetzten Eventualitäten verräth auch die Mehrzahl
der uns zugegangenen östreichischen Broschüren. Eine derselben, die wir bereits
erwähnt haben: Oestreichs Desorganisation und Reorganisation,
verdient eine eingehende Besprechung; wir kommen auf dieselbe zurück, sobald
wir die Fortsetzung erhalten haben. — Eine andere: Zur Lösung der Na-
lionalit ätenfragc; ein Mahnruf an die Regierung und die Völ¬
ker Oestreichs, fast die Sache ziemlich sanguinisch auf.. „Die Verschieden¬
heit der Nationalität und Sprache wirkt nicht störend auf die Einheit des
Staats; dies sehen wir an der Schweiz. . . . Die Ungleichheit in verfassungs¬
mäßigen Zuständen und Gesetzen stört mehr die Staatseinheit als die Un¬
gleichheit der Sprache." — „Die Völker dürfen nie vergessen, daß über der
Nationalität die Menschheit steht, und daß diese einer höhern Weltordnung
folgt, die sich in der Staatenbildung offenbart. Im Staate erst u. s. w."

„Oestreich, als staatlicher Verband von zehn verschiedenen Völkern Isind
denn das alles Völker?1. hat die Doppelaufgabe. allen Völkern das gleiche
Recht zu gewähren und dieses bei jedem einzelnen gleich zu schützen. Oest¬
reich scheint von der Vorsehung ausersehen zu sein, jenen Musterstaat zu bil¬
den, welcher das Nationalitätsprincip in seiner wahren Bedeutung zur Geltung
zu bringen hat." —Eine rühmliche Aufgabe! aber wie sie durchführen, wenn die
betreffenden Völker eulturhistorisch nicht so weit sind', der Regierung darin zu
Hilfe zu kommen? Gegen ihren Willen? —dann haben wir den Absolntisms!
Wären alle Völker vernünftig, ohne Vorurtheile und ohne Leidenschaften, so
brauchten wir überhaupt keine Staaten; Alles würde sich von selbst associiren.


Grenzboten II, 1861. 14
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[0115] Es scheint, daß die östreichische Dynastie den zweiten der beiden mög¬ lichen Wege zu betreten im Begriffe steht. Die Ministcrtnsc. die dabei ge¬ nannten Namen Szecsen, Rieger, Clam Martiniz deuten darauf hin. Gleichviel, ob bewußt oder unbewußt arbeitet ein solches Vorgehen den Klcindeutschen in die Hände, kann Preußen kein größerer Gefallen geschehen. Nachdem aber der Deutsche in Oestreich mit blutendem Herzen gesehen und immer wieder sich überzeugt hat, daß sich seine Landsleute im Kaiserstaat ihres Zusammenhanges mit Deutschland nur sehr schwach bewußt sind, und daß sich seine Landsleute außer Oestreich nachgerade von allen anderen Na¬ tionen an Rührigkeit beim Aufbau nationaler Einheit übertreffen lassen, muß er froh sein, daß endlich statt des Schwankens eine Bahn betreten wird, daß seine Landsleute durch argumenta, <?, contrario deutsch gemacht, aus der Schlaffheit aufgerüttelt und dahin gedrängt werden, ihren gemeinsamen Mittelpunkt weder in Wien noch in Berlin, sondern durch Berlin in Frank¬ furt zu suchen. —--- Einen ähnlichen Kampf verschiedenartiger Gefühle, ein ähnliches Schwan¬ ken zwischen zwei entgegengesetzten Eventualitäten verräth auch die Mehrzahl der uns zugegangenen östreichischen Broschüren. Eine derselben, die wir bereits erwähnt haben: Oestreichs Desorganisation und Reorganisation, verdient eine eingehende Besprechung; wir kommen auf dieselbe zurück, sobald wir die Fortsetzung erhalten haben. — Eine andere: Zur Lösung der Na- lionalit ätenfragc; ein Mahnruf an die Regierung und die Völ¬ ker Oestreichs, fast die Sache ziemlich sanguinisch auf.. „Die Verschieden¬ heit der Nationalität und Sprache wirkt nicht störend auf die Einheit des Staats; dies sehen wir an der Schweiz. . . . Die Ungleichheit in verfassungs¬ mäßigen Zuständen und Gesetzen stört mehr die Staatseinheit als die Un¬ gleichheit der Sprache." — „Die Völker dürfen nie vergessen, daß über der Nationalität die Menschheit steht, und daß diese einer höhern Weltordnung folgt, die sich in der Staatenbildung offenbart. Im Staate erst u. s. w." „Oestreich, als staatlicher Verband von zehn verschiedenen Völkern Isind denn das alles Völker?1. hat die Doppelaufgabe. allen Völkern das gleiche Recht zu gewähren und dieses bei jedem einzelnen gleich zu schützen. Oest¬ reich scheint von der Vorsehung ausersehen zu sein, jenen Musterstaat zu bil¬ den, welcher das Nationalitätsprincip in seiner wahren Bedeutung zur Geltung zu bringen hat." —Eine rühmliche Aufgabe! aber wie sie durchführen, wenn die betreffenden Völker eulturhistorisch nicht so weit sind', der Regierung darin zu Hilfe zu kommen? Gegen ihren Willen? —dann haben wir den Absolntisms! Wären alle Völker vernünftig, ohne Vorurtheile und ohne Leidenschaften, so brauchten wir überhaupt keine Staaten; Alles würde sich von selbst associiren. Grenzboten II, 1861. 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/115>, abgerufen am 27.09.2024.