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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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naturgeschichtlicher Lehrmittel (Leipzig, Brandstetter); ein vortreffliches kleines
Buch, das wir nur darum in diese Reibe ausnehmen, weil auch die übrigen
Schriftsteller die Scheidelinie zwischen Glauben und Wissen hauptsächlich durch
das Organ der Naturwissenschaft festzustellen versuchen. Diese Scheidelinie
wird um so sicherer gezogen werden können, wenn man den Wissenschaften
der Naturwissenschaft und der Metaphysik ihre Grenze absteckt.

Nicht Alles nämlich, was in das Gebiet der einen fällt, gehört auch in
das der andern; und neben ihnen gibt es ein Reich des unmittelbaren Be¬
wußtseins, das weder von dem einen noch von dem andern berührt wird. --
Man verzeihe das Durcheinander des Folgenden; es sind eben nur- zer¬
streute Gedanken.

-- Nicht jeder klare Gedanke ist richtig; nicht jeder richtige Gedanke
ist klar. --

Klar ist nur derjenige Gedanke, den ich construiren, in unmittelbare sinn¬
liche Anschauung übersetzen, als unmittelbare eigne Empfindung aufnehmen,
den ich für mich praktisch verwerthen kann. Jeder Gedanke wird um so
klarer, je näher ich durch Analogien mir seine Construction vermitteln kann. --

Ein Beispiel. Alle Begriffe der reinen Mathematik sind klar, weil sie
nichts enthalten, als regulirte sinnliche Anschauungen. Ganz anders mit den
Begriffen der Physik und Physiologie, mit den Begriffen des Werdens
überhaupt.

Ein Kegel, eine Hyperbel, ein Ellipsoid ist mir ein vollkommen klarer
Begriff. Dagegen ist das Gesetz der Schwere etwas, was mein, eignes Be¬
wußtsein absolut übersteigt. Der Naturforscher hat durch unzählige regulirte
Beobachtungen über die Bewegung der Körper das Gesetz gefunden, daß alle
Körper einander anziehen: neue Beobachtungen, auf Grund des Gesetzes an¬
gestellt, haben dasselbe bestätigt. Man hat sogar den Grad der Bewegung
berechnet, man kann vermöge der Kenntniß dieses Gesetzes die Natur zwingen.
-- Aber mit unserm eignen Wesen hat dieses Gesetz gar nichts zu thu"; es
a priori aus dem Inhalt unsers eignen Geistes herleite" zu wollen, verdient
mit Recht den Spott aller Naturforscher. , Die Erfahrung hat das Gesetz ge¬
funden, und wir sind damit zufrieden; wenn eine neue Erfahrung es modifi-
cirt oder ganz widerlegt, so haben wir damit auch nichts verloren. Die Klar¬
heit unsrer Begriffe im Allgemeinen wird dadurch weder vermehrt noch ver¬
mindert.

Um mit Kant zu reden: die Schwere fällt außerhalb der "synthetischen
Urtheile g, xiioii." -- Ein Beispiel, daß nicht blos in der übersinnlichen Welt
Gedanken vorhanden sind, die über unsern Begriff Hinausgehen.

Es gibt Bedürfnisse unsers Denkens, welche uns zwingen, anzunehmen,
dnß. wo wir eine Wirkung wahrnehmen, eine Ursache vorhanden sein muß.


naturgeschichtlicher Lehrmittel (Leipzig, Brandstetter); ein vortreffliches kleines
Buch, das wir nur darum in diese Reibe ausnehmen, weil auch die übrigen
Schriftsteller die Scheidelinie zwischen Glauben und Wissen hauptsächlich durch
das Organ der Naturwissenschaft festzustellen versuchen. Diese Scheidelinie
wird um so sicherer gezogen werden können, wenn man den Wissenschaften
der Naturwissenschaft und der Metaphysik ihre Grenze absteckt.

Nicht Alles nämlich, was in das Gebiet der einen fällt, gehört auch in
das der andern; und neben ihnen gibt es ein Reich des unmittelbaren Be¬
wußtseins, das weder von dem einen noch von dem andern berührt wird. —
Man verzeihe das Durcheinander des Folgenden; es sind eben nur- zer¬
streute Gedanken.

— Nicht jeder klare Gedanke ist richtig; nicht jeder richtige Gedanke
ist klar. —

Klar ist nur derjenige Gedanke, den ich construiren, in unmittelbare sinn¬
liche Anschauung übersetzen, als unmittelbare eigne Empfindung aufnehmen,
den ich für mich praktisch verwerthen kann. Jeder Gedanke wird um so
klarer, je näher ich durch Analogien mir seine Construction vermitteln kann. —

Ein Beispiel. Alle Begriffe der reinen Mathematik sind klar, weil sie
nichts enthalten, als regulirte sinnliche Anschauungen. Ganz anders mit den
Begriffen der Physik und Physiologie, mit den Begriffen des Werdens
überhaupt.

Ein Kegel, eine Hyperbel, ein Ellipsoid ist mir ein vollkommen klarer
Begriff. Dagegen ist das Gesetz der Schwere etwas, was mein, eignes Be¬
wußtsein absolut übersteigt. Der Naturforscher hat durch unzählige regulirte
Beobachtungen über die Bewegung der Körper das Gesetz gefunden, daß alle
Körper einander anziehen: neue Beobachtungen, auf Grund des Gesetzes an¬
gestellt, haben dasselbe bestätigt. Man hat sogar den Grad der Bewegung
berechnet, man kann vermöge der Kenntniß dieses Gesetzes die Natur zwingen.
— Aber mit unserm eignen Wesen hat dieses Gesetz gar nichts zu thu»; es
a priori aus dem Inhalt unsers eignen Geistes herleite» zu wollen, verdient
mit Recht den Spott aller Naturforscher. , Die Erfahrung hat das Gesetz ge¬
funden, und wir sind damit zufrieden; wenn eine neue Erfahrung es modifi-
cirt oder ganz widerlegt, so haben wir damit auch nichts verloren. Die Klar¬
heit unsrer Begriffe im Allgemeinen wird dadurch weder vermehrt noch ver¬
mindert.

Um mit Kant zu reden: die Schwere fällt außerhalb der „synthetischen
Urtheile g, xiioii." — Ein Beispiel, daß nicht blos in der übersinnlichen Welt
Gedanken vorhanden sind, die über unsern Begriff Hinausgehen.

Es gibt Bedürfnisse unsers Denkens, welche uns zwingen, anzunehmen,
dnß. wo wir eine Wirkung wahrnehmen, eine Ursache vorhanden sein muß.


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[0519] naturgeschichtlicher Lehrmittel (Leipzig, Brandstetter); ein vortreffliches kleines Buch, das wir nur darum in diese Reibe ausnehmen, weil auch die übrigen Schriftsteller die Scheidelinie zwischen Glauben und Wissen hauptsächlich durch das Organ der Naturwissenschaft festzustellen versuchen. Diese Scheidelinie wird um so sicherer gezogen werden können, wenn man den Wissenschaften der Naturwissenschaft und der Metaphysik ihre Grenze absteckt. Nicht Alles nämlich, was in das Gebiet der einen fällt, gehört auch in das der andern; und neben ihnen gibt es ein Reich des unmittelbaren Be¬ wußtseins, das weder von dem einen noch von dem andern berührt wird. — Man verzeihe das Durcheinander des Folgenden; es sind eben nur- zer¬ streute Gedanken. — Nicht jeder klare Gedanke ist richtig; nicht jeder richtige Gedanke ist klar. — Klar ist nur derjenige Gedanke, den ich construiren, in unmittelbare sinn¬ liche Anschauung übersetzen, als unmittelbare eigne Empfindung aufnehmen, den ich für mich praktisch verwerthen kann. Jeder Gedanke wird um so klarer, je näher ich durch Analogien mir seine Construction vermitteln kann. — Ein Beispiel. Alle Begriffe der reinen Mathematik sind klar, weil sie nichts enthalten, als regulirte sinnliche Anschauungen. Ganz anders mit den Begriffen der Physik und Physiologie, mit den Begriffen des Werdens überhaupt. Ein Kegel, eine Hyperbel, ein Ellipsoid ist mir ein vollkommen klarer Begriff. Dagegen ist das Gesetz der Schwere etwas, was mein, eignes Be¬ wußtsein absolut übersteigt. Der Naturforscher hat durch unzählige regulirte Beobachtungen über die Bewegung der Körper das Gesetz gefunden, daß alle Körper einander anziehen: neue Beobachtungen, auf Grund des Gesetzes an¬ gestellt, haben dasselbe bestätigt. Man hat sogar den Grad der Bewegung berechnet, man kann vermöge der Kenntniß dieses Gesetzes die Natur zwingen. — Aber mit unserm eignen Wesen hat dieses Gesetz gar nichts zu thu»; es a priori aus dem Inhalt unsers eignen Geistes herleite» zu wollen, verdient mit Recht den Spott aller Naturforscher. , Die Erfahrung hat das Gesetz ge¬ funden, und wir sind damit zufrieden; wenn eine neue Erfahrung es modifi- cirt oder ganz widerlegt, so haben wir damit auch nichts verloren. Die Klar¬ heit unsrer Begriffe im Allgemeinen wird dadurch weder vermehrt noch ver¬ mindert. Um mit Kant zu reden: die Schwere fällt außerhalb der „synthetischen Urtheile g, xiioii." — Ein Beispiel, daß nicht blos in der übersinnlichen Welt Gedanken vorhanden sind, die über unsern Begriff Hinausgehen. Es gibt Bedürfnisse unsers Denkens, welche uns zwingen, anzunehmen, dnß. wo wir eine Wirkung wahrnehmen, eine Ursache vorhanden sein muß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/519>, abgerufen am 29.06.2024.