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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Ob wir nun aber über diese Ursache uns etwas Näheres vorstellen können,
das hängt davon ab, ob Analogien vorhanden sind. Leverrier fand bei der
Berechnung des Uranus, daß irgendwo auf die Bewegungen dieses Planeten
eine Kraft wirken müsse, die noch unbekannt sei; vermittelst der Analogie
schloß er auf einen neuen Planeten, und dieser Planet fand sich in der That.
-- Der menschliche Geist hat das Bedürfniß, für die unendliche Wirkung, die
er Welt nennt, eine Ursache, oder für die unendliche Erscheinung ein Wesen,
eine Substanz zu suchen; diese Ursache, dieses Wesen, diese Substanz nennt er
Gott; da ihm aber die Analogie fehlt, so findet er durch den Syllogismus
nur ein großes X. eine Hypothese, die ihm keinen klaren Begriff verschafft,
ohne daß er an ihrer Wahrheit zweifelt. Der Glaube an Gott würde da¬
her ein ziemlich leerer sein, wenn er blos auf dem Syllogismus beruhte --
vorausgesetzt, daß diese Syllogismen alle richtig sind, worüber bekanntlich die
Metaphysiker noch streiten.'

Wie steht es mit dem Begriff der Seele?

Ich habe einen vollkommen klaren Begriff von meiner Freiheit, trotz aller Ver¬
suche, welche die Metaphysik macht, mich zu widerlegen. Wenn ich einen Entschluß
fassen will, so kann ich alle Gründe für und wider aufzählen, dieselben nach
Gesetzen, die ich selbst gegeben, prüfen, gegen einander abwägen, und danach
meine Wahl treffen. Der Stein kann das nicht, die Pflanze nicht, das Thier
nur bis zu einer beschränkten Grenze. -- Im Verhältniß also zum Thier,
zur Pflanze, zum Stein bin ich frei. -- Wenn der Metaphysiker mir einwen¬
det: aber daß dir eben jene Gründe für und wider, daß dir gerade im Augen¬
blick jene Gesetze einfallen, das liegt nicht in deiner Willkür; das bestimmt
sich aus deiner Individualität, aus der menschlichen Natur überhaupt, aus
dem Wetter, dem Schnupfen u. s. w.. so ist mir das ganz gleichgiltig; ich
weiß sehr wohl, daß die Freiheit nur ein relativer Begriff ist. -- Noch
mehr: ich weiß, daß ich nicht immer frei bin. Wir alle schlafen und träumen;
im Traum sind wir gewiß nicht frei; manche Menschen betrinken sich, andere
werden verrückt: auch dann ist es mit der Freiheit zu Eude. -- Sage ich
also: insofern Ich das Vermögen der Freiheit habe, bin Ich -- das Wesen,
das sich als identisch mit sich selbst unmittelbar weiß -- eine Seele, so ist
das ein vollkommen klarer Begriff, ich kann ihn praktisch verwerthen, ich kann
mich' in der Freiheit weiter ausbilden, durch Gymnastik des Körpers und
Geistes; ich kann den Körper und den Geist, und vermittelst ihrer die Außen¬
welt, meinem Willen immer mehr und mehr unterwerfen. -- Wenn ich mir
Pflanzen und Steine beseelt vorstelle, so meine ich unter Seele etwas Anderes,
es ist also im Grund nur ein Wortspiel.

Aber was die Seele nun eigentlich mehr ist als das Bewußtsein von
der Möglichkeit der Freiheit ^ das sagt mir mein Bewußtsein nicht.


Ob wir nun aber über diese Ursache uns etwas Näheres vorstellen können,
das hängt davon ab, ob Analogien vorhanden sind. Leverrier fand bei der
Berechnung des Uranus, daß irgendwo auf die Bewegungen dieses Planeten
eine Kraft wirken müsse, die noch unbekannt sei; vermittelst der Analogie
schloß er auf einen neuen Planeten, und dieser Planet fand sich in der That.
— Der menschliche Geist hat das Bedürfniß, für die unendliche Wirkung, die
er Welt nennt, eine Ursache, oder für die unendliche Erscheinung ein Wesen,
eine Substanz zu suchen; diese Ursache, dieses Wesen, diese Substanz nennt er
Gott; da ihm aber die Analogie fehlt, so findet er durch den Syllogismus
nur ein großes X. eine Hypothese, die ihm keinen klaren Begriff verschafft,
ohne daß er an ihrer Wahrheit zweifelt. Der Glaube an Gott würde da¬
her ein ziemlich leerer sein, wenn er blos auf dem Syllogismus beruhte —
vorausgesetzt, daß diese Syllogismen alle richtig sind, worüber bekanntlich die
Metaphysiker noch streiten.'

Wie steht es mit dem Begriff der Seele?

Ich habe einen vollkommen klaren Begriff von meiner Freiheit, trotz aller Ver¬
suche, welche die Metaphysik macht, mich zu widerlegen. Wenn ich einen Entschluß
fassen will, so kann ich alle Gründe für und wider aufzählen, dieselben nach
Gesetzen, die ich selbst gegeben, prüfen, gegen einander abwägen, und danach
meine Wahl treffen. Der Stein kann das nicht, die Pflanze nicht, das Thier
nur bis zu einer beschränkten Grenze. — Im Verhältniß also zum Thier,
zur Pflanze, zum Stein bin ich frei. — Wenn der Metaphysiker mir einwen¬
det: aber daß dir eben jene Gründe für und wider, daß dir gerade im Augen¬
blick jene Gesetze einfallen, das liegt nicht in deiner Willkür; das bestimmt
sich aus deiner Individualität, aus der menschlichen Natur überhaupt, aus
dem Wetter, dem Schnupfen u. s. w.. so ist mir das ganz gleichgiltig; ich
weiß sehr wohl, daß die Freiheit nur ein relativer Begriff ist. — Noch
mehr: ich weiß, daß ich nicht immer frei bin. Wir alle schlafen und träumen;
im Traum sind wir gewiß nicht frei; manche Menschen betrinken sich, andere
werden verrückt: auch dann ist es mit der Freiheit zu Eude. — Sage ich
also: insofern Ich das Vermögen der Freiheit habe, bin Ich — das Wesen,
das sich als identisch mit sich selbst unmittelbar weiß — eine Seele, so ist
das ein vollkommen klarer Begriff, ich kann ihn praktisch verwerthen, ich kann
mich' in der Freiheit weiter ausbilden, durch Gymnastik des Körpers und
Geistes; ich kann den Körper und den Geist, und vermittelst ihrer die Außen¬
welt, meinem Willen immer mehr und mehr unterwerfen. — Wenn ich mir
Pflanzen und Steine beseelt vorstelle, so meine ich unter Seele etwas Anderes,
es ist also im Grund nur ein Wortspiel.

Aber was die Seele nun eigentlich mehr ist als das Bewußtsein von
der Möglichkeit der Freiheit ^ das sagt mir mein Bewußtsein nicht.


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[0520] Ob wir nun aber über diese Ursache uns etwas Näheres vorstellen können, das hängt davon ab, ob Analogien vorhanden sind. Leverrier fand bei der Berechnung des Uranus, daß irgendwo auf die Bewegungen dieses Planeten eine Kraft wirken müsse, die noch unbekannt sei; vermittelst der Analogie schloß er auf einen neuen Planeten, und dieser Planet fand sich in der That. — Der menschliche Geist hat das Bedürfniß, für die unendliche Wirkung, die er Welt nennt, eine Ursache, oder für die unendliche Erscheinung ein Wesen, eine Substanz zu suchen; diese Ursache, dieses Wesen, diese Substanz nennt er Gott; da ihm aber die Analogie fehlt, so findet er durch den Syllogismus nur ein großes X. eine Hypothese, die ihm keinen klaren Begriff verschafft, ohne daß er an ihrer Wahrheit zweifelt. Der Glaube an Gott würde da¬ her ein ziemlich leerer sein, wenn er blos auf dem Syllogismus beruhte — vorausgesetzt, daß diese Syllogismen alle richtig sind, worüber bekanntlich die Metaphysiker noch streiten.' Wie steht es mit dem Begriff der Seele? Ich habe einen vollkommen klaren Begriff von meiner Freiheit, trotz aller Ver¬ suche, welche die Metaphysik macht, mich zu widerlegen. Wenn ich einen Entschluß fassen will, so kann ich alle Gründe für und wider aufzählen, dieselben nach Gesetzen, die ich selbst gegeben, prüfen, gegen einander abwägen, und danach meine Wahl treffen. Der Stein kann das nicht, die Pflanze nicht, das Thier nur bis zu einer beschränkten Grenze. — Im Verhältniß also zum Thier, zur Pflanze, zum Stein bin ich frei. — Wenn der Metaphysiker mir einwen¬ det: aber daß dir eben jene Gründe für und wider, daß dir gerade im Augen¬ blick jene Gesetze einfallen, das liegt nicht in deiner Willkür; das bestimmt sich aus deiner Individualität, aus der menschlichen Natur überhaupt, aus dem Wetter, dem Schnupfen u. s. w.. so ist mir das ganz gleichgiltig; ich weiß sehr wohl, daß die Freiheit nur ein relativer Begriff ist. — Noch mehr: ich weiß, daß ich nicht immer frei bin. Wir alle schlafen und träumen; im Traum sind wir gewiß nicht frei; manche Menschen betrinken sich, andere werden verrückt: auch dann ist es mit der Freiheit zu Eude. — Sage ich also: insofern Ich das Vermögen der Freiheit habe, bin Ich — das Wesen, das sich als identisch mit sich selbst unmittelbar weiß — eine Seele, so ist das ein vollkommen klarer Begriff, ich kann ihn praktisch verwerthen, ich kann mich' in der Freiheit weiter ausbilden, durch Gymnastik des Körpers und Geistes; ich kann den Körper und den Geist, und vermittelst ihrer die Außen¬ welt, meinem Willen immer mehr und mehr unterwerfen. — Wenn ich mir Pflanzen und Steine beseelt vorstelle, so meine ich unter Seele etwas Anderes, es ist also im Grund nur ein Wortspiel. Aber was die Seele nun eigentlich mehr ist als das Bewußtsein von der Möglichkeit der Freiheit ^ das sagt mir mein Bewußtsein nicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/520>, abgerufen am 26.06.2024.