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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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zweiten größern Erzählung: "ut de Franzosen dit" ein volles kräftiges
Leben, mit dem nur wenige deutsche Romane wetteifern können.

Unwillkührlich wird man an Jeremias Gotthelf erinnert. Es ist die¬
selbe wunderbare sinnliche Kraft, durch welche sich Alles, was erzählt wird, in
unmittelbarster Gegenwart der Phantasie aufdrängt; dieselbe Sicherheit in de
Charakteristik, so daß jeder einzelne Zug aus dem innersten Lebensmotiv des
Charakters hervorgeht. Man räsonnirt vielfach über den Contrast der Frei¬
heit und Nothwendigkeit, und in wiefern das eine vom andern eingeschränkt
werde. Niemand zeigt uns deutlicher, daß diese beiden Begriffe nur durch
die Abstraction geschieden werden, als der echte Dichter. Der echte Dichter
zeigt uns seine Figuren in vollständiger Freiheit, er macht nicht etwa Rechen¬
maschinen aus ihnen, die jeder beliebige. Leser ihm nachschnitzcln könnte, wenn
er nur über das Princip ihres Charakters im Reinen ist, sondern Alles, was
sie thun oder reden, überrascht uns, erregt unser Gelächter, unsere Theilnahme,
unsere Rührung, unsere Bewunderung, kurz ist uns etwas Neues. Zugleich
aber haben wir, wenn wir nun einmal das Neue erfahren haben, das ganz
bestimmte Gefühl der Nothwendigkeit: so und nicht anders mußte er handeln
und sich äußern! Die Kunst, dies beides mit einander zu verbinden, den
Leser zu überrasche" und ihn doch zugleich zu überzeugen, ist eben das Ge¬
heimniß des wahren Dichters, die unermeßliche Kluft, die ihn vom Dilettanten
unterscheidet. Der altmodische Dilettant gibt moralische Rechenmaschinen, bei
denen man schon nach der ersten Scene das Buch zumachen kann, da man
in der Hauptsache schon Alles weiß was kommen wird; der jungdeutsche
Dilettant gibt Mollusken ohne allen Knochenbau, die im Schlaf bald so
bald so handeln und reden, ohne daß man wüßte, aus welchem Grund oder
zu welchem Zweck.

Zu diesem Vorzug kommt aber noch ein dritter, den Fritz Reuter mit
Jeremias Gotthelf gemein hat. den wir nicht geringer anschlagen: der Vorzug
vollendeter Gesundheit. Es weht in dieser Erzählung eine Luft, bei der auch
dem Hypochonder wohl werden muß. Wir meinen damit nicht blos die komi¬
schen Scenen, obgleich sich auch darin in den Otte Kamelien eine Kraft zeigt,
Mit der nicht viele deutsche Dichter wetteifern können: sondern auch da. wo
er ruhig fort erzählt, folgen wir mit gespannter und heiterer Theilnahme.
Denn seine Personen sind nicht blos lebensfähig, sondern auch lebens¬
würdig; sie flößen uns nickt blos den Glauben an ihre Wirklichkeit ein. sondern
auch den Wunsch nach ihrer Wirklichkeit: unter solchen Leuten möchten wir
gern leben. Nicht etwa Tugendspiegel oder Engel; im Gegentheil, rechtliche
Erben von Adam und Eva. mitunter auch verschroben, leichtsinnig, abgeschmackt,
aber doch lauter herrliche Menschen. Das ist eben der Zauber des wahren
poetischen Spiegels, daß er die Figuren um so mehr verschönert, je treuer er


zweiten größern Erzählung: „ut de Franzosen dit" ein volles kräftiges
Leben, mit dem nur wenige deutsche Romane wetteifern können.

Unwillkührlich wird man an Jeremias Gotthelf erinnert. Es ist die¬
selbe wunderbare sinnliche Kraft, durch welche sich Alles, was erzählt wird, in
unmittelbarster Gegenwart der Phantasie aufdrängt; dieselbe Sicherheit in de
Charakteristik, so daß jeder einzelne Zug aus dem innersten Lebensmotiv des
Charakters hervorgeht. Man räsonnirt vielfach über den Contrast der Frei¬
heit und Nothwendigkeit, und in wiefern das eine vom andern eingeschränkt
werde. Niemand zeigt uns deutlicher, daß diese beiden Begriffe nur durch
die Abstraction geschieden werden, als der echte Dichter. Der echte Dichter
zeigt uns seine Figuren in vollständiger Freiheit, er macht nicht etwa Rechen¬
maschinen aus ihnen, die jeder beliebige. Leser ihm nachschnitzcln könnte, wenn
er nur über das Princip ihres Charakters im Reinen ist, sondern Alles, was
sie thun oder reden, überrascht uns, erregt unser Gelächter, unsere Theilnahme,
unsere Rührung, unsere Bewunderung, kurz ist uns etwas Neues. Zugleich
aber haben wir, wenn wir nun einmal das Neue erfahren haben, das ganz
bestimmte Gefühl der Nothwendigkeit: so und nicht anders mußte er handeln
und sich äußern! Die Kunst, dies beides mit einander zu verbinden, den
Leser zu überrasche» und ihn doch zugleich zu überzeugen, ist eben das Ge¬
heimniß des wahren Dichters, die unermeßliche Kluft, die ihn vom Dilettanten
unterscheidet. Der altmodische Dilettant gibt moralische Rechenmaschinen, bei
denen man schon nach der ersten Scene das Buch zumachen kann, da man
in der Hauptsache schon Alles weiß was kommen wird; der jungdeutsche
Dilettant gibt Mollusken ohne allen Knochenbau, die im Schlaf bald so
bald so handeln und reden, ohne daß man wüßte, aus welchem Grund oder
zu welchem Zweck.

Zu diesem Vorzug kommt aber noch ein dritter, den Fritz Reuter mit
Jeremias Gotthelf gemein hat. den wir nicht geringer anschlagen: der Vorzug
vollendeter Gesundheit. Es weht in dieser Erzählung eine Luft, bei der auch
dem Hypochonder wohl werden muß. Wir meinen damit nicht blos die komi¬
schen Scenen, obgleich sich auch darin in den Otte Kamelien eine Kraft zeigt,
Mit der nicht viele deutsche Dichter wetteifern können: sondern auch da. wo
er ruhig fort erzählt, folgen wir mit gespannter und heiterer Theilnahme.
Denn seine Personen sind nicht blos lebensfähig, sondern auch lebens¬
würdig; sie flößen uns nickt blos den Glauben an ihre Wirklichkeit ein. sondern
auch den Wunsch nach ihrer Wirklichkeit: unter solchen Leuten möchten wir
gern leben. Nicht etwa Tugendspiegel oder Engel; im Gegentheil, rechtliche
Erben von Adam und Eva. mitunter auch verschroben, leichtsinnig, abgeschmackt,
aber doch lauter herrliche Menschen. Das ist eben der Zauber des wahren
poetischen Spiegels, daß er die Figuren um so mehr verschönert, je treuer er


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[0415] zweiten größern Erzählung: „ut de Franzosen dit" ein volles kräftiges Leben, mit dem nur wenige deutsche Romane wetteifern können. Unwillkührlich wird man an Jeremias Gotthelf erinnert. Es ist die¬ selbe wunderbare sinnliche Kraft, durch welche sich Alles, was erzählt wird, in unmittelbarster Gegenwart der Phantasie aufdrängt; dieselbe Sicherheit in de Charakteristik, so daß jeder einzelne Zug aus dem innersten Lebensmotiv des Charakters hervorgeht. Man räsonnirt vielfach über den Contrast der Frei¬ heit und Nothwendigkeit, und in wiefern das eine vom andern eingeschränkt werde. Niemand zeigt uns deutlicher, daß diese beiden Begriffe nur durch die Abstraction geschieden werden, als der echte Dichter. Der echte Dichter zeigt uns seine Figuren in vollständiger Freiheit, er macht nicht etwa Rechen¬ maschinen aus ihnen, die jeder beliebige. Leser ihm nachschnitzcln könnte, wenn er nur über das Princip ihres Charakters im Reinen ist, sondern Alles, was sie thun oder reden, überrascht uns, erregt unser Gelächter, unsere Theilnahme, unsere Rührung, unsere Bewunderung, kurz ist uns etwas Neues. Zugleich aber haben wir, wenn wir nun einmal das Neue erfahren haben, das ganz bestimmte Gefühl der Nothwendigkeit: so und nicht anders mußte er handeln und sich äußern! Die Kunst, dies beides mit einander zu verbinden, den Leser zu überrasche» und ihn doch zugleich zu überzeugen, ist eben das Ge¬ heimniß des wahren Dichters, die unermeßliche Kluft, die ihn vom Dilettanten unterscheidet. Der altmodische Dilettant gibt moralische Rechenmaschinen, bei denen man schon nach der ersten Scene das Buch zumachen kann, da man in der Hauptsache schon Alles weiß was kommen wird; der jungdeutsche Dilettant gibt Mollusken ohne allen Knochenbau, die im Schlaf bald so bald so handeln und reden, ohne daß man wüßte, aus welchem Grund oder zu welchem Zweck. Zu diesem Vorzug kommt aber noch ein dritter, den Fritz Reuter mit Jeremias Gotthelf gemein hat. den wir nicht geringer anschlagen: der Vorzug vollendeter Gesundheit. Es weht in dieser Erzählung eine Luft, bei der auch dem Hypochonder wohl werden muß. Wir meinen damit nicht blos die komi¬ schen Scenen, obgleich sich auch darin in den Otte Kamelien eine Kraft zeigt, Mit der nicht viele deutsche Dichter wetteifern können: sondern auch da. wo er ruhig fort erzählt, folgen wir mit gespannter und heiterer Theilnahme. Denn seine Personen sind nicht blos lebensfähig, sondern auch lebens¬ würdig; sie flößen uns nickt blos den Glauben an ihre Wirklichkeit ein. sondern auch den Wunsch nach ihrer Wirklichkeit: unter solchen Leuten möchten wir gern leben. Nicht etwa Tugendspiegel oder Engel; im Gegentheil, rechtliche Erben von Adam und Eva. mitunter auch verschroben, leichtsinnig, abgeschmackt, aber doch lauter herrliche Menschen. Das ist eben der Zauber des wahren poetischen Spiegels, daß er die Figuren um so mehr verschönert, je treuer er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/415>, abgerufen am 15.01.2025.