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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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ihnen gar nicht nachahmen sonnen, sie haben sich noch nicht in der Schule
der Allgemeinen deutschen Bibliothek, der italienischen Sonette, der Klopstock-
scher Messiade, der Hegelschen Logik u. s. w. den gesunden Menschenverstand
verdorben, ihre Einfülle treffen daher den Nagel auf den Kopf So gebt z. B.
nichts über den glücklichen Treffer eines plattdeutschen Sprichworts. Dies ist
der Vorzug des Dialekts an und für sich; ein andrer ebenso großer wird durch
den Contrast gewonnen. Wenn in den Gegenden, wo das Plattdeutsche vor¬
herrscht, auch die Gebildeten sich im vertrauten Kreise der Mundart bedienen,
so ist doch die Sprache ihrer Bildung hochdeutsch: sie sind aus den Universi¬
täten gewesen, sie haben an Goethe, Schiller, Lessing ihr Denken und Empfin¬
den geschult, sie predigen hochdeutsch, sie machen ihre Eingaben an die Re¬
gierung hochdeutsch u. s. w. Ihre Seele'hat also gewissermaßen ein doppeltes
Leben, und wenn sie den Schah von Bildern, Empfindungen und Gedanken,
den sie ihrem hochdeutschen Leben verdanken, durchaus uicht preiszugeben
gemeint sind, so besitzen sie daneben in ihrer Mundart einen zweiten Schatz
des unmittelbaren sinnlichen Bewußtseins. Daß nun bald das Eine, bald das
Andere hervortritt und zwar Beides als etwas Positives, das eben macht den
natürlichen Humor dieser Sprache aus, den wir bei uns nur künstlich hervor¬
bringen. Die englischen Novellisten haben schon lange verstanden, diesen hu¬
moristischen Gegensatz der Volkssprache geltend zu machen. Um das aber zu
können, muß man nicht etwa aus dem Wörterbuch oder aus dem Umgang die
einzelnen Ausdrücke und Wendungen des Dialekts sich angeeignet haben, son¬
dern man muß im Stande sein, in demselben sclbststündig zu denken und em¬
pfinden. Wenn man hochdeutsche Gedanken mit Hilfe des Wörterbuchs in
den Dialekt überträgt, so hat man damit noch lange nicht im Dialekt gedacht
und empfunden.

Darin scheinen es die meisten dieser neuen Dichter zu versehen. Der
Dialekt halbem eigenes eng umschriebenes Leben, über das er nicht hinaus
kann, ohne gerade das einzubüßen, was seinen Vorzug ausmacht, die innere
Uebereinstimmung und sinnliche Unbefangenheit. So erscheinen uns z. B. bei
Claus Groth die Gedichte, in denen eine unmittelbar sinnliche Anschauung
oder ein inniges Gefühl waltet, vortrefflich, sobald er aber pathetisch oder
philosophisch wird, haben wir die Empfindung, daß es aus dem Hochdeutschen
übersetzt, mit andern Worten, daß es gemacht ist. Auch Fritz Reuter, ob¬
gleich er ein großes Gefühl für das Wirkliche hat, verfällt zuweilen in diesen
Fehler. So erzählt er einmal die Reise mehrer Wanderburschen, von denen
jeder sein Volks- oder Schelmenlied zum Besten gibt, bis endlich der letzte sie
straft, daß sie ihrer Mundart so wenig gedenken, und nun ein großartiges
Gedicht vorträgt, worin in zahlreichen Strophen die plattdeutsche Sprache mit
einer tausendjährigen Eiche verglichen wird u. s. w. Gegen das Gedicht ist'


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ihnen gar nicht nachahmen sonnen, sie haben sich noch nicht in der Schule
der Allgemeinen deutschen Bibliothek, der italienischen Sonette, der Klopstock-
scher Messiade, der Hegelschen Logik u. s. w. den gesunden Menschenverstand
verdorben, ihre Einfülle treffen daher den Nagel auf den Kopf So gebt z. B.
nichts über den glücklichen Treffer eines plattdeutschen Sprichworts. Dies ist
der Vorzug des Dialekts an und für sich; ein andrer ebenso großer wird durch
den Contrast gewonnen. Wenn in den Gegenden, wo das Plattdeutsche vor¬
herrscht, auch die Gebildeten sich im vertrauten Kreise der Mundart bedienen,
so ist doch die Sprache ihrer Bildung hochdeutsch: sie sind aus den Universi¬
täten gewesen, sie haben an Goethe, Schiller, Lessing ihr Denken und Empfin¬
den geschult, sie predigen hochdeutsch, sie machen ihre Eingaben an die Re¬
gierung hochdeutsch u. s. w. Ihre Seele'hat also gewissermaßen ein doppeltes
Leben, und wenn sie den Schah von Bildern, Empfindungen und Gedanken,
den sie ihrem hochdeutschen Leben verdanken, durchaus uicht preiszugeben
gemeint sind, so besitzen sie daneben in ihrer Mundart einen zweiten Schatz
des unmittelbaren sinnlichen Bewußtseins. Daß nun bald das Eine, bald das
Andere hervortritt und zwar Beides als etwas Positives, das eben macht den
natürlichen Humor dieser Sprache aus, den wir bei uns nur künstlich hervor¬
bringen. Die englischen Novellisten haben schon lange verstanden, diesen hu¬
moristischen Gegensatz der Volkssprache geltend zu machen. Um das aber zu
können, muß man nicht etwa aus dem Wörterbuch oder aus dem Umgang die
einzelnen Ausdrücke und Wendungen des Dialekts sich angeeignet haben, son¬
dern man muß im Stande sein, in demselben sclbststündig zu denken und em¬
pfinden. Wenn man hochdeutsche Gedanken mit Hilfe des Wörterbuchs in
den Dialekt überträgt, so hat man damit noch lange nicht im Dialekt gedacht
und empfunden.

Darin scheinen es die meisten dieser neuen Dichter zu versehen. Der
Dialekt halbem eigenes eng umschriebenes Leben, über das er nicht hinaus
kann, ohne gerade das einzubüßen, was seinen Vorzug ausmacht, die innere
Uebereinstimmung und sinnliche Unbefangenheit. So erscheinen uns z. B. bei
Claus Groth die Gedichte, in denen eine unmittelbar sinnliche Anschauung
oder ein inniges Gefühl waltet, vortrefflich, sobald er aber pathetisch oder
philosophisch wird, haben wir die Empfindung, daß es aus dem Hochdeutschen
übersetzt, mit andern Worten, daß es gemacht ist. Auch Fritz Reuter, ob¬
gleich er ein großes Gefühl für das Wirkliche hat, verfällt zuweilen in diesen
Fehler. So erzählt er einmal die Reise mehrer Wanderburschen, von denen
jeder sein Volks- oder Schelmenlied zum Besten gibt, bis endlich der letzte sie
straft, daß sie ihrer Mundart so wenig gedenken, und nun ein großartiges
Gedicht vorträgt, worin in zahlreichen Strophen die plattdeutsche Sprache mit
einer tausendjährigen Eiche verglichen wird u. s. w. Gegen das Gedicht ist'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/413>, abgerufen am 15.01.2025.