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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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erhielt, lag weniger in seinem innern Werth als in der zwingenden Macht
der Verhältnisse. FreUich hat darüber die Sprache viel eingebüßt, auch noch
in neuer Zeit, seitdem durch Luthers unermeßliche Wirksamkeit die Richtung
für immer festgestellt war; denn es galt nicht blos das Volk, sondern auch
die Gelehrten für die deutsche Literatur zu gewinnen, und das konnte nur da¬
durch geschehen, daß man sich in vieler Rücksicht den Gewohnheiten der Gelehr¬
ten fügte und der Genauigkeit zu Liebe manche Anmuth und manchen Reiz
aufopferte. Es waren Pedanten, die unsere neue Sprache festgestellt haben,
Wolf und in zweiter Linie Gottsched. Das Vorbild der Lateiner und Fran¬
zosen auf einer Seite, auf der andern Seite die Kanzel und Kanzlei sind die
Quellen unseres Ausdrucks gewesen, und dieser Ursprung ist an unserer Wort¬
fügung und Satzbildung noch sehr merklich zu erkennen. Eine Reihe von
großen Dichtern und Denkern war nöthig, um der Sprache die Kraft und Fülle
zu geben, deren sie sich heute erfreut.

Die Dialekte wichen nicht ohne Widerstand; Hebel's Versuche erwarben
sich sogar bei den Hochdeutschen einen großen Beifall; einen noch bedeuten¬
deren Erfolg würde Voß errungen haben, wenn der Umfang seines Talents
größer und seine Richtung unbefangener gewesen wäre. Es war der unglück¬
lichste Einfall von der Welt, das Plattdeutsche im Gewand des Hexameters
in die Literatur einführen zu wollen. Hätte Voß in der Weise, wie er die
Otterndorfer Zustände in seinen "Stolbergschen Umtrieben^ schildert, uns das
allgemeine Leben seines Volks und mit der Gesinnung desselben auch seine
Sprache näher geführt, so würde er sür uns und für die Niedersachsen mehr
geleistet haben. In neuer Zeit hat.der Oldenburger Dr. Goldschmidt in
dieser Art dem Verständniß des niederdeutschen Wesens sehr genutzt, und wir
bedauern lebhast, daß er seit einigen Jahren aus der Literatur verschwunden
zmchein scheint.

Die Richtung aufs Realistische ist auch den Dialekten zu Statten gekommen.
Jeremias Gotthelf hat die Schweizer Redensarten mit voller Unbefangen¬
heit, Berthold Auerbach den Dialekt des Schwarzwaldes mit größerer Aus¬
wahl und in idealisirter Form angewandt. Beide haben für das allgemeine
deutsche Publikum geschrieben, sie haben daher das Hochdeutsche zu Grunde
gelegt und die fremden Ausdrücke so gut es gehen wollte erläutert.

Abgesehen von der Freude, welche ihre Landsleute daran baben mögen,
die heimischen Ausdrücke gedruckt zu sehen, freilich in einer Orthographie, die
ihnen selbst wol fremdartig vorkommen wird, hat auch für uns diese neue
Entdeckung einen großen Reiz. Denn die Dialekte sind weder durch die Kanzel
noch durch die Zeitungen, noch durch die höhere Metaphysik zersetzt worden, sie
sind indem Felde, das sie wirklich beherrschen, von ungeschwächter natur¬
wüchsiger Kraft; sie verstatten naive und humoristische Wendungen, die >rM


erhielt, lag weniger in seinem innern Werth als in der zwingenden Macht
der Verhältnisse. FreUich hat darüber die Sprache viel eingebüßt, auch noch
in neuer Zeit, seitdem durch Luthers unermeßliche Wirksamkeit die Richtung
für immer festgestellt war; denn es galt nicht blos das Volk, sondern auch
die Gelehrten für die deutsche Literatur zu gewinnen, und das konnte nur da¬
durch geschehen, daß man sich in vieler Rücksicht den Gewohnheiten der Gelehr¬
ten fügte und der Genauigkeit zu Liebe manche Anmuth und manchen Reiz
aufopferte. Es waren Pedanten, die unsere neue Sprache festgestellt haben,
Wolf und in zweiter Linie Gottsched. Das Vorbild der Lateiner und Fran¬
zosen auf einer Seite, auf der andern Seite die Kanzel und Kanzlei sind die
Quellen unseres Ausdrucks gewesen, und dieser Ursprung ist an unserer Wort¬
fügung und Satzbildung noch sehr merklich zu erkennen. Eine Reihe von
großen Dichtern und Denkern war nöthig, um der Sprache die Kraft und Fülle
zu geben, deren sie sich heute erfreut.

Die Dialekte wichen nicht ohne Widerstand; Hebel's Versuche erwarben
sich sogar bei den Hochdeutschen einen großen Beifall; einen noch bedeuten¬
deren Erfolg würde Voß errungen haben, wenn der Umfang seines Talents
größer und seine Richtung unbefangener gewesen wäre. Es war der unglück¬
lichste Einfall von der Welt, das Plattdeutsche im Gewand des Hexameters
in die Literatur einführen zu wollen. Hätte Voß in der Weise, wie er die
Otterndorfer Zustände in seinen „Stolbergschen Umtrieben^ schildert, uns das
allgemeine Leben seines Volks und mit der Gesinnung desselben auch seine
Sprache näher geführt, so würde er sür uns und für die Niedersachsen mehr
geleistet haben. In neuer Zeit hat.der Oldenburger Dr. Goldschmidt in
dieser Art dem Verständniß des niederdeutschen Wesens sehr genutzt, und wir
bedauern lebhast, daß er seit einigen Jahren aus der Literatur verschwunden
zmchein scheint.

Die Richtung aufs Realistische ist auch den Dialekten zu Statten gekommen.
Jeremias Gotthelf hat die Schweizer Redensarten mit voller Unbefangen¬
heit, Berthold Auerbach den Dialekt des Schwarzwaldes mit größerer Aus¬
wahl und in idealisirter Form angewandt. Beide haben für das allgemeine
deutsche Publikum geschrieben, sie haben daher das Hochdeutsche zu Grunde
gelegt und die fremden Ausdrücke so gut es gehen wollte erläutert.

Abgesehen von der Freude, welche ihre Landsleute daran baben mögen,
die heimischen Ausdrücke gedruckt zu sehen, freilich in einer Orthographie, die
ihnen selbst wol fremdartig vorkommen wird, hat auch für uns diese neue
Entdeckung einen großen Reiz. Denn die Dialekte sind weder durch die Kanzel
noch durch die Zeitungen, noch durch die höhere Metaphysik zersetzt worden, sie
sind indem Felde, das sie wirklich beherrschen, von ungeschwächter natur¬
wüchsiger Kraft; sie verstatten naive und humoristische Wendungen, die >rM


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/412>, abgerufen am 15.01.2025.