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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Auf die Umschau nach den Grenzen unseres Sprachgebiets längs dem
Saum des vormaligen Reichs deutscher Nation mag eine flüchtige Muste¬
rung der Hauptäste des deutschen Sprachstamms und ihres gegenwärtigen
Verhältnisses zu einander in der Ordnung sein. Neben den reichgefüllten
Speichern germanischer Sprachforschung und Gelehrsamkeit anspruchslose
Spreu! Die alten Naturgrenzen der volksmündlichen Dialekte und Mund¬
arten haben physiologische Stetigkeit, deren Abwandlungen in neuerer Zeit
theils für sehr gering zu achten sind, theils sich historisch nicht nachweisen
lassen. Das Ueberhandnehmen des Schrifthvchdeutschen ist ein wesentliches
Moment dabei; doch das besagt nicht Dialekt gegen Dialekt.

Das niederdeutsche hat nach der Absonderung des Vlämischen und
Holländischen auf deutschem Boden noch eine, alte und ehrwürdige Schwe¬
ster in dem Friesischen, dessen Sippe, nach starken Verlusten auf ge¬
ringen Raum, längs der deutschen Nordseeküste beschränkt, sich dennoch des
gänzlichen Uebergangs in das benachbarte Plattdeutsche erwehrt. Eine Stief¬
schwester hat das sächsische Plattdeutsche in dem Niederrheimschen, dem das
Vlämische und Holländische Manches zugemischt haben. Im südlichen West¬
falen ist das Rothhaargebirge Grenze des Plattdeutschen. In Hessen reicht es
bis'an den Habichtswald; an das plattdeutsche Diemelland stößt das hoch¬
deutsche Flußgebiet der Fulda. Ostwärts von da geht die Scheide durch das
Eichsseld. wo Hciligenstadt hochdeutsch, Duderstadt plattdeutsch, um Duderstadt
aber nach der Bergscheidc ein Theil plattdeutsch wat, der andere hochdeutsch
was spricht. Darauf durch den Harz, wo die Bergleute (ob fränkischen
Stamms?) und einige Orte, Ellrich. Hasselfclde, hochdeutsch, alles Uebrige
plattdeutsch redet. Von den südlichen Abhängen des Harzes, Aschersleben rc,
setzt die Sprachscheide über Quedlinburg, Calbe, Zerbst. Wittenberg, ISter¬
il ock. Luckau. Lübben, Guben, Krossen und Züllichau sich fort bis Meseritz und
in das Großherzogthum Pose". An der Ostseekiiste hat das Plattdeutsche i">
Munde des Volks ausschließlich Geltung in Holstein, Mecklenburg. Pommern.
Westpreußen und bei der Mehrzahl der Ostpreußen. Der ihm eigene dünne
Zischlaut in sy, se, si, hin, su, so. sprechen, stehen, ßlagen, ßmieren, ßnüi'en.
ßwer mahnt an gleiche Laute im Englischen und scandinavischen. Mund¬
artliche Eigenheiten sind u. a. das westfälische Schinken, wo das es getrennt
von s gesprochen wird, und daß für mich, dich und mir, dir. die binnen¬
ländischen Plattdeutschen meat und deck, die knstenländischen mi und ti
sprechen.

Von den oben bezeichneten drei Hauptgebieten des Oberdeutschen,
dem Oberrheinischen, das in die Schweiz hineinreicht, dem Schwäbische"
(Schmeller's Westlech). dem Bayerschen (Schmeller's Ostlech). wovon dn^
Oestreichische die Fortsetzung und das Oberpfälzische und Böhmisch-Deutsche


Auf die Umschau nach den Grenzen unseres Sprachgebiets längs dem
Saum des vormaligen Reichs deutscher Nation mag eine flüchtige Muste¬
rung der Hauptäste des deutschen Sprachstamms und ihres gegenwärtigen
Verhältnisses zu einander in der Ordnung sein. Neben den reichgefüllten
Speichern germanischer Sprachforschung und Gelehrsamkeit anspruchslose
Spreu! Die alten Naturgrenzen der volksmündlichen Dialekte und Mund¬
arten haben physiologische Stetigkeit, deren Abwandlungen in neuerer Zeit
theils für sehr gering zu achten sind, theils sich historisch nicht nachweisen
lassen. Das Ueberhandnehmen des Schrifthvchdeutschen ist ein wesentliches
Moment dabei; doch das besagt nicht Dialekt gegen Dialekt.

Das niederdeutsche hat nach der Absonderung des Vlämischen und
Holländischen auf deutschem Boden noch eine, alte und ehrwürdige Schwe¬
ster in dem Friesischen, dessen Sippe, nach starken Verlusten auf ge¬
ringen Raum, längs der deutschen Nordseeküste beschränkt, sich dennoch des
gänzlichen Uebergangs in das benachbarte Plattdeutsche erwehrt. Eine Stief¬
schwester hat das sächsische Plattdeutsche in dem Niederrheimschen, dem das
Vlämische und Holländische Manches zugemischt haben. Im südlichen West¬
falen ist das Rothhaargebirge Grenze des Plattdeutschen. In Hessen reicht es
bis'an den Habichtswald; an das plattdeutsche Diemelland stößt das hoch¬
deutsche Flußgebiet der Fulda. Ostwärts von da geht die Scheide durch das
Eichsseld. wo Hciligenstadt hochdeutsch, Duderstadt plattdeutsch, um Duderstadt
aber nach der Bergscheidc ein Theil plattdeutsch wat, der andere hochdeutsch
was spricht. Darauf durch den Harz, wo die Bergleute (ob fränkischen
Stamms?) und einige Orte, Ellrich. Hasselfclde, hochdeutsch, alles Uebrige
plattdeutsch redet. Von den südlichen Abhängen des Harzes, Aschersleben rc,
setzt die Sprachscheide über Quedlinburg, Calbe, Zerbst. Wittenberg, ISter¬
il ock. Luckau. Lübben, Guben, Krossen und Züllichau sich fort bis Meseritz und
in das Großherzogthum Pose». An der Ostseekiiste hat das Plattdeutsche i»>
Munde des Volks ausschließlich Geltung in Holstein, Mecklenburg. Pommern.
Westpreußen und bei der Mehrzahl der Ostpreußen. Der ihm eigene dünne
Zischlaut in sy, se, si, hin, su, so. sprechen, stehen, ßlagen, ßmieren, ßnüi'en.
ßwer mahnt an gleiche Laute im Englischen und scandinavischen. Mund¬
artliche Eigenheiten sind u. a. das westfälische Schinken, wo das es getrennt
von s gesprochen wird, und daß für mich, dich und mir, dir. die binnen¬
ländischen Plattdeutschen meat und deck, die knstenländischen mi und ti
sprechen.

Von den oben bezeichneten drei Hauptgebieten des Oberdeutschen,
dem Oberrheinischen, das in die Schweiz hineinreicht, dem Schwäbische"
(Schmeller's Westlech). dem Bayerschen (Schmeller's Ostlech). wovon dn^
Oestreichische die Fortsetzung und das Oberpfälzische und Böhmisch-Deutsche


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[0366] Auf die Umschau nach den Grenzen unseres Sprachgebiets längs dem Saum des vormaligen Reichs deutscher Nation mag eine flüchtige Muste¬ rung der Hauptäste des deutschen Sprachstamms und ihres gegenwärtigen Verhältnisses zu einander in der Ordnung sein. Neben den reichgefüllten Speichern germanischer Sprachforschung und Gelehrsamkeit anspruchslose Spreu! Die alten Naturgrenzen der volksmündlichen Dialekte und Mund¬ arten haben physiologische Stetigkeit, deren Abwandlungen in neuerer Zeit theils für sehr gering zu achten sind, theils sich historisch nicht nachweisen lassen. Das Ueberhandnehmen des Schrifthvchdeutschen ist ein wesentliches Moment dabei; doch das besagt nicht Dialekt gegen Dialekt. Das niederdeutsche hat nach der Absonderung des Vlämischen und Holländischen auf deutschem Boden noch eine, alte und ehrwürdige Schwe¬ ster in dem Friesischen, dessen Sippe, nach starken Verlusten auf ge¬ ringen Raum, längs der deutschen Nordseeküste beschränkt, sich dennoch des gänzlichen Uebergangs in das benachbarte Plattdeutsche erwehrt. Eine Stief¬ schwester hat das sächsische Plattdeutsche in dem Niederrheimschen, dem das Vlämische und Holländische Manches zugemischt haben. Im südlichen West¬ falen ist das Rothhaargebirge Grenze des Plattdeutschen. In Hessen reicht es bis'an den Habichtswald; an das plattdeutsche Diemelland stößt das hoch¬ deutsche Flußgebiet der Fulda. Ostwärts von da geht die Scheide durch das Eichsseld. wo Hciligenstadt hochdeutsch, Duderstadt plattdeutsch, um Duderstadt aber nach der Bergscheidc ein Theil plattdeutsch wat, der andere hochdeutsch was spricht. Darauf durch den Harz, wo die Bergleute (ob fränkischen Stamms?) und einige Orte, Ellrich. Hasselfclde, hochdeutsch, alles Uebrige plattdeutsch redet. Von den südlichen Abhängen des Harzes, Aschersleben rc, setzt die Sprachscheide über Quedlinburg, Calbe, Zerbst. Wittenberg, ISter¬ il ock. Luckau. Lübben, Guben, Krossen und Züllichau sich fort bis Meseritz und in das Großherzogthum Pose». An der Ostseekiiste hat das Plattdeutsche i»> Munde des Volks ausschließlich Geltung in Holstein, Mecklenburg. Pommern. Westpreußen und bei der Mehrzahl der Ostpreußen. Der ihm eigene dünne Zischlaut in sy, se, si, hin, su, so. sprechen, stehen, ßlagen, ßmieren, ßnüi'en. ßwer mahnt an gleiche Laute im Englischen und scandinavischen. Mund¬ artliche Eigenheiten sind u. a. das westfälische Schinken, wo das es getrennt von s gesprochen wird, und daß für mich, dich und mir, dir. die binnen¬ ländischen Plattdeutschen meat und deck, die knstenländischen mi und ti sprechen. Von den oben bezeichneten drei Hauptgebieten des Oberdeutschen, dem Oberrheinischen, das in die Schweiz hineinreicht, dem Schwäbische" (Schmeller's Westlech). dem Bayerschen (Schmeller's Ostlech). wovon dn^ Oestreichische die Fortsetzung und das Oberpfälzische und Böhmisch-Deutsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/366>, abgerufen am 30.06.2024.