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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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schüttelt durch die Unarten der Revolution zog der König selbst in tendenziöser
Begünstigung des Junkerthums neue gefährliche Unarten der Reaction groß.
Ein tragisches Geschick war es, daß in diesen Kämpfen sein eignes Leben ver¬
düstert wurde und erlöschte.

So begann die neue Zeit für Preußen. Sie fand den Staat in einer
Desorganisation, die viel größer war, zum großen Theil noch ist, als selbst
die Mehrzahl der Preußen empfindet. Es war allerdings keine Verwüstung,
wie sie Alter und Lebensunfähigkeit hervorbringt, im Gegentheil das Neben-
-einanderstehen unfertiger neuer Bildungen und unhaltbarer alter Traditionen.
Ueberall Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und Forderungen nach Neuem oder
dem beseitigten Alten. Die Un selb Mündigkeit und Erfolglosigkeit aller Operationen
des auswärtigen Amtes hatte die Staatsmänner und Diplomaten Preußens in
unerhörter Weise ruinirt. Die alten Kräfte waren gestorben und entfernt,
eine neue Schule war durchaus nicht vorhanden; nirgend dachte man kleiner
und geringer von den hohen Aufgaben Preußens, als da, wo die Ueber¬
zeugungen am sichersten, das Urtheil am größten sein mußte. Auch
das Heer war in vierzig Friedensjahren eingerostet. Seit der Zeit des großen
Kurfürsten und Friedrich's II. umschloß die Armee das Terrain. in welchem die
Prinzen des Hauses Hohenzollern herauswuchsen, der Armee gehörte ihre
Thätigkeit, der Militärdienst erschien als ihr natürlicher Beruf. Früher, als
"> einem andern Staate, war in Preußen Brauch, daß fast alle Prinzen im
Dienst zu Generalen, heraufkommen mußten; aber selbst die lebhafte Theilnahme
des königlichen Hauses vermochte nicht alle Uebelstände so langer Friedenszeit
beseitigen, ja sie zog einige neue groß.

Der Stolz des alten preußischen Beamtenstandes war, vermindert,
seine Integrität war in dem letzten Jahrzehnt gefährlich verringert worden.
Als König Wilhelm die Regentschaft übernahm, fand er einen Staat.
Welcher zwar einige von den Formen einer constitutionellen Monarchie besaß,
"ber immer noch weit davon entfernt war, ein Verfassungsstaat zu sein.
Nicht deshalb, weil die Willkür des alten Beamtenthums factisch noch im
schreienden Gegensatze stand zu mehrern gesetzlichen Bestimmungen der Ver-
sussungsurkunde. auch nicht weil diese Verfassung selbst noch unfertig war,
den Ministern die Verantwortlichkeit fehlte, das Herrenhaus ein Conglomerat
unfähiger und unberechtigter Kräfte war, sondern noch mehr aus anderen Grün¬
den, den maßgebenden noch für die gegenwärtige Physiognomie Preußens.
Noch waren die Grenzen der persönlichen Regierung des Monarchen nicht fest¬
gesteckt. Grenzen, welche freilich nicht durch ein Gesetz zu reguliren sind, nur durch
die Praxis eines längern und kräftigen Verfassungslebens. Der König erkannte in
seinem Staat allerdings eifrige Parteigegensätze. Sehr erfreulich war der Fort¬
schritt, den die politische Bildung des Volkes in den letzten zwölf Jahren gemacht


schüttelt durch die Unarten der Revolution zog der König selbst in tendenziöser
Begünstigung des Junkerthums neue gefährliche Unarten der Reaction groß.
Ein tragisches Geschick war es, daß in diesen Kämpfen sein eignes Leben ver¬
düstert wurde und erlöschte.

So begann die neue Zeit für Preußen. Sie fand den Staat in einer
Desorganisation, die viel größer war, zum großen Theil noch ist, als selbst
die Mehrzahl der Preußen empfindet. Es war allerdings keine Verwüstung,
wie sie Alter und Lebensunfähigkeit hervorbringt, im Gegentheil das Neben-
-einanderstehen unfertiger neuer Bildungen und unhaltbarer alter Traditionen.
Ueberall Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und Forderungen nach Neuem oder
dem beseitigten Alten. Die Un selb Mündigkeit und Erfolglosigkeit aller Operationen
des auswärtigen Amtes hatte die Staatsmänner und Diplomaten Preußens in
unerhörter Weise ruinirt. Die alten Kräfte waren gestorben und entfernt,
eine neue Schule war durchaus nicht vorhanden; nirgend dachte man kleiner
und geringer von den hohen Aufgaben Preußens, als da, wo die Ueber¬
zeugungen am sichersten, das Urtheil am größten sein mußte. Auch
das Heer war in vierzig Friedensjahren eingerostet. Seit der Zeit des großen
Kurfürsten und Friedrich's II. umschloß die Armee das Terrain. in welchem die
Prinzen des Hauses Hohenzollern herauswuchsen, der Armee gehörte ihre
Thätigkeit, der Militärdienst erschien als ihr natürlicher Beruf. Früher, als
"> einem andern Staate, war in Preußen Brauch, daß fast alle Prinzen im
Dienst zu Generalen, heraufkommen mußten; aber selbst die lebhafte Theilnahme
des königlichen Hauses vermochte nicht alle Uebelstände so langer Friedenszeit
beseitigen, ja sie zog einige neue groß.

Der Stolz des alten preußischen Beamtenstandes war, vermindert,
seine Integrität war in dem letzten Jahrzehnt gefährlich verringert worden.
Als König Wilhelm die Regentschaft übernahm, fand er einen Staat.
Welcher zwar einige von den Formen einer constitutionellen Monarchie besaß,
"ber immer noch weit davon entfernt war, ein Verfassungsstaat zu sein.
Nicht deshalb, weil die Willkür des alten Beamtenthums factisch noch im
schreienden Gegensatze stand zu mehrern gesetzlichen Bestimmungen der Ver-
sussungsurkunde. auch nicht weil diese Verfassung selbst noch unfertig war,
den Ministern die Verantwortlichkeit fehlte, das Herrenhaus ein Conglomerat
unfähiger und unberechtigter Kräfte war, sondern noch mehr aus anderen Grün¬
den, den maßgebenden noch für die gegenwärtige Physiognomie Preußens.
Noch waren die Grenzen der persönlichen Regierung des Monarchen nicht fest¬
gesteckt. Grenzen, welche freilich nicht durch ein Gesetz zu reguliren sind, nur durch
die Praxis eines längern und kräftigen Verfassungslebens. Der König erkannte in
seinem Staat allerdings eifrige Parteigegensätze. Sehr erfreulich war der Fort¬
schritt, den die politische Bildung des Volkes in den letzten zwölf Jahren gemacht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/293>, abgerufen am 25.08.2024.