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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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über alle andern für gering oder wol gar für schädlich achten. Es war oft
eine grausame Quälerei, aber sie hatten doch nun auch etwas von der Reli¬
gion, denn auch im Grauen liegt ein großer Genuß, wie ja die Kinder zeigen,
wenn sie Gespenstergeschichten lauschen. Sehr hoch wurde die Aufgabe und
die Pflicht des Wicdergebornen, namentlich des Geistlichen, gespannt, der seiner
Heerde als Vorbild vorleuchten sollte. Jeder seiner Gedanken, jede seiner
Empfindungen sollte heilig und verklärt sein. Dies Streben findet zuerst bei den
niedern Ständen Anklang; es entsteh" die Conventikel. Dann fängt der Pietismus
an zu organisiren: das Frankesche Waisenhaus, die Brüdergemeinde; er bemäch¬
tigt sich z. B. in Halle des Katheders und constituirt sich als Facultät, wie seine
ehemaligen Gegner. Aber mit dieser neuen Verweltlichung ist seine Produc-
tivitüt abgeschwächt; die Gedanken, Empfindungen und Bilder, ohnehin an
einen sehr engen Kreis gebannt, werden immer einförmiger und endlich blo¬
ßer' Gcdächtnißkrcnn. Zuletzt bleibt nur ein trüber ungesunder Bodensatz zu¬
rück. Zugleich hat sich aber die Stimmung verflüchtigt und pflanzt sich mias¬
matisch in andere Bildungsformen ein. Es kommen die schönen Seelen, die
fein gebildeten Individualitäten, die mit dem Glauben nicht anfangen, son¬
dern nach dem Glauben sich sehnen, und in dieser Sehnsucht, in diesem Be¬
dürfniß den aristokratischen Stempel einer vornehmen begnadigten Natur an
sich zu tragen glauben. Der heilige Priester, der in der Facultüt wie in der
Secte in kleinen Geschäften untergeht, verwandelt sich in den Scher; er pro-
ducirt seine Religion, seinen Gott: mit anderen Worten, er wird Dichter.
So haben wir das Geschlechtsregister von Spener zu Fräulein v. Kletten¬
berg. Klopstock, Lavater, Haman u. s. w. durchgeführt.

Diesem Pietismus ist die Philosophie ursprünglich entgegengesetzt. Der
Gründer jeder neuen Philosophie hebt sich über die Grenzen seiner Heimath
heraus und wird Weltbürger. Der Gründer der deutschen Philosophie, Leibnil)
hat mit seinen deutsche" Vorgängen wenig oder gar nichts zu thun; er stützt
sich zustimmend oder ablehnend aus Cartesius, Spinoza, auf Newton,
Locke u. f. w. Er spricht und schreibt französisch; lateinisch nothgedrungen.
um sich seinen Kollegen auf den Universitäten verständlich zu machen; deutsch
ungern und unbequem. Deu Kämpfen seiner Zeitgenossen gegenüber entwickelt
er sowol die Ironie als die Urbanität der Bildung, die jeden Standpunkt
versteht, auf jeden sich versetzt, in keinen aufgeht. Auf das Volk hat er nicht
den mindesten Einfluß. Nun aber tritt in seinem Schüler Wolf der echte
Deutsche hervor, der Mann, der klar einsieht was seinem Zeitalter Noth thut-
Die chaotische Verwilderung des Denkens. Redens und Empfindens in Deutsch'
land bedarf einer scharfen, strengen Schule. Die Deutschen müssen wieder
mit dem ABC anfangen, um die Herrschaft über ihre Sprache, also mittclbn>
auch die Herrschaft über ihre Gedanken, wieder zu erobern. Nie gab es einen
strengeren und consequenteren Schulmeister als Wolf. Man macht den Mann


über alle andern für gering oder wol gar für schädlich achten. Es war oft
eine grausame Quälerei, aber sie hatten doch nun auch etwas von der Reli¬
gion, denn auch im Grauen liegt ein großer Genuß, wie ja die Kinder zeigen,
wenn sie Gespenstergeschichten lauschen. Sehr hoch wurde die Aufgabe und
die Pflicht des Wicdergebornen, namentlich des Geistlichen, gespannt, der seiner
Heerde als Vorbild vorleuchten sollte. Jeder seiner Gedanken, jede seiner
Empfindungen sollte heilig und verklärt sein. Dies Streben findet zuerst bei den
niedern Ständen Anklang; es entsteh» die Conventikel. Dann fängt der Pietismus
an zu organisiren: das Frankesche Waisenhaus, die Brüdergemeinde; er bemäch¬
tigt sich z. B. in Halle des Katheders und constituirt sich als Facultät, wie seine
ehemaligen Gegner. Aber mit dieser neuen Verweltlichung ist seine Produc-
tivitüt abgeschwächt; die Gedanken, Empfindungen und Bilder, ohnehin an
einen sehr engen Kreis gebannt, werden immer einförmiger und endlich blo¬
ßer' Gcdächtnißkrcnn. Zuletzt bleibt nur ein trüber ungesunder Bodensatz zu¬
rück. Zugleich hat sich aber die Stimmung verflüchtigt und pflanzt sich mias¬
matisch in andere Bildungsformen ein. Es kommen die schönen Seelen, die
fein gebildeten Individualitäten, die mit dem Glauben nicht anfangen, son¬
dern nach dem Glauben sich sehnen, und in dieser Sehnsucht, in diesem Be¬
dürfniß den aristokratischen Stempel einer vornehmen begnadigten Natur an
sich zu tragen glauben. Der heilige Priester, der in der Facultüt wie in der
Secte in kleinen Geschäften untergeht, verwandelt sich in den Scher; er pro-
ducirt seine Religion, seinen Gott: mit anderen Worten, er wird Dichter.
So haben wir das Geschlechtsregister von Spener zu Fräulein v. Kletten¬
berg. Klopstock, Lavater, Haman u. s. w. durchgeführt.

Diesem Pietismus ist die Philosophie ursprünglich entgegengesetzt. Der
Gründer jeder neuen Philosophie hebt sich über die Grenzen seiner Heimath
heraus und wird Weltbürger. Der Gründer der deutschen Philosophie, Leibnil)
hat mit seinen deutsche» Vorgängen wenig oder gar nichts zu thun; er stützt
sich zustimmend oder ablehnend aus Cartesius, Spinoza, auf Newton,
Locke u. f. w. Er spricht und schreibt französisch; lateinisch nothgedrungen.
um sich seinen Kollegen auf den Universitäten verständlich zu machen; deutsch
ungern und unbequem. Deu Kämpfen seiner Zeitgenossen gegenüber entwickelt
er sowol die Ironie als die Urbanität der Bildung, die jeden Standpunkt
versteht, auf jeden sich versetzt, in keinen aufgeht. Auf das Volk hat er nicht
den mindesten Einfluß. Nun aber tritt in seinem Schüler Wolf der echte
Deutsche hervor, der Mann, der klar einsieht was seinem Zeitalter Noth thut-
Die chaotische Verwilderung des Denkens. Redens und Empfindens in Deutsch'
land bedarf einer scharfen, strengen Schule. Die Deutschen müssen wieder
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[0214] über alle andern für gering oder wol gar für schädlich achten. Es war oft eine grausame Quälerei, aber sie hatten doch nun auch etwas von der Reli¬ gion, denn auch im Grauen liegt ein großer Genuß, wie ja die Kinder zeigen, wenn sie Gespenstergeschichten lauschen. Sehr hoch wurde die Aufgabe und die Pflicht des Wicdergebornen, namentlich des Geistlichen, gespannt, der seiner Heerde als Vorbild vorleuchten sollte. Jeder seiner Gedanken, jede seiner Empfindungen sollte heilig und verklärt sein. Dies Streben findet zuerst bei den niedern Ständen Anklang; es entsteh» die Conventikel. Dann fängt der Pietismus an zu organisiren: das Frankesche Waisenhaus, die Brüdergemeinde; er bemäch¬ tigt sich z. B. in Halle des Katheders und constituirt sich als Facultät, wie seine ehemaligen Gegner. Aber mit dieser neuen Verweltlichung ist seine Produc- tivitüt abgeschwächt; die Gedanken, Empfindungen und Bilder, ohnehin an einen sehr engen Kreis gebannt, werden immer einförmiger und endlich blo¬ ßer' Gcdächtnißkrcnn. Zuletzt bleibt nur ein trüber ungesunder Bodensatz zu¬ rück. Zugleich hat sich aber die Stimmung verflüchtigt und pflanzt sich mias¬ matisch in andere Bildungsformen ein. Es kommen die schönen Seelen, die fein gebildeten Individualitäten, die mit dem Glauben nicht anfangen, son¬ dern nach dem Glauben sich sehnen, und in dieser Sehnsucht, in diesem Be¬ dürfniß den aristokratischen Stempel einer vornehmen begnadigten Natur an sich zu tragen glauben. Der heilige Priester, der in der Facultüt wie in der Secte in kleinen Geschäften untergeht, verwandelt sich in den Scher; er pro- ducirt seine Religion, seinen Gott: mit anderen Worten, er wird Dichter. So haben wir das Geschlechtsregister von Spener zu Fräulein v. Kletten¬ berg. Klopstock, Lavater, Haman u. s. w. durchgeführt. Diesem Pietismus ist die Philosophie ursprünglich entgegengesetzt. Der Gründer jeder neuen Philosophie hebt sich über die Grenzen seiner Heimath heraus und wird Weltbürger. Der Gründer der deutschen Philosophie, Leibnil) hat mit seinen deutsche» Vorgängen wenig oder gar nichts zu thun; er stützt sich zustimmend oder ablehnend aus Cartesius, Spinoza, auf Newton, Locke u. f. w. Er spricht und schreibt französisch; lateinisch nothgedrungen. um sich seinen Kollegen auf den Universitäten verständlich zu machen; deutsch ungern und unbequem. Deu Kämpfen seiner Zeitgenossen gegenüber entwickelt er sowol die Ironie als die Urbanität der Bildung, die jeden Standpunkt versteht, auf jeden sich versetzt, in keinen aufgeht. Auf das Volk hat er nicht den mindesten Einfluß. Nun aber tritt in seinem Schüler Wolf der echte Deutsche hervor, der Mann, der klar einsieht was seinem Zeitalter Noth thut- Die chaotische Verwilderung des Denkens. Redens und Empfindens in Deutsch' land bedarf einer scharfen, strengen Schule. Die Deutschen müssen wieder mit dem ABC anfangen, um die Herrschaft über ihre Sprache, also mittclbn> auch die Herrschaft über ihre Gedanken, wieder zu erobern. Nie gab es einen strengeren und consequenteren Schulmeister als Wolf. Man macht den Mann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/214>, abgerufen am 15.01.2025.