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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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im Einzelnen gezeigt, wie sie sich zu der Wolfschen Schule, namentlich zu Bil-
finger. Baumgarten und Meier verhalten. Um dies noch bestimmter
festzustellen, sei es uns erlaubt, etwas weiter auszuholen.

Wir fassen die Periode von 1680 -- 1750 -- vom Ende der zweiten schle¬
ichen Schule bis zum Messias -- als eine Uebergangsperiode zusammen, die,
wie alle Uebergangsperioden, vorwiegend kritischer Natur ist. Es gilt zunächst,
mit dem Alten aufzuräumen, um dem Neuen Raum zu schaffen. Das Alte,
was nicht länger leben konnte, war 1) die orthodoxe Theologie, die sich darauf
beschränkte, gegen die Ketzer zu predigen, die Glaubensartikel in scholastischer
Wcije zu zerfasern und die Sacramente auszutheilen ; 2) die aufs Engste mit
ihr verbundene scholastische Katheder-Weisheit, die von den realen Dingen,
von dem wirklichen Leben der Nation und von ihrer Sprache sich gänzlich ge¬
trennt hatte; 3) die Poesie, die ohne allen wirklichen Inhalt des Gemüths,
nach fremden, meistens nach schlechten Mustern gebildet, nicht Bildung genug
besah, ihre innere Armuth und Leerheit zu verstecken.

Gegen das Zunftwesen der Theologen, der Philosophen und Poeten er¬
hoben sich gleichzeitig 1) der Pietismus. 2) die Leibnitz-Wolfsche Philosophie.
3) der alt nationale deutsche gesunde Menschenverstand, der in keiner Periode
unserer Literatur völlig unterdrückt war. der sich im 16. und 17. Jahrhundert
hauptsächlich in den Satirikern regte und den in unserer Periode zunächst
Christian Weise und Th omasius. später Liskow vertraten. Diese Rich¬
tungen kreuzten sich einander und führten, sobald sie zur klaren Erkenntniß ka¬
men, einen Krieg auf Leben und Tod. Bei ihrem ersten Auftreten aber wa¬
ren sie gleichmäßig gegen das Alte, gegen die zünftige Gelehrsamkeit, gegen
die zünftige Theologie, gegen die zünftige Dichtkunst gerichtet.

Der Pietismus wollte vom Christenthum etwas Positives haben. Nach
der alten Orthodoxie hatte derjenige, der glaubte, d. h. der gegen das Lehr¬
gebäude seines Beichtvaters nicht räsonnirte, vom Christenthum gar nichts mehr;
tun Religionsgeschäft war in guten Handen, und er konnte nun hingehen,
l^ben. denken und empfinde", wie er Lust hatte. Es ist sehr charakteristisch,
und noch nicht genug hervorgehoben, daß in einer Periode, wo die Recht-
gläubigkeit am brutalsten auftrat, nebenher die Poesie sich gradeso ins Hei-
denthum verlor wie in den Zeiten der Renaissance. Man achtet darauf nicht.
>ont in der Regel Hoffmannswaldau und Lobenstein nicht mehr ge¬
lesen werden. -- Spener nun und seine Nachfolger wollten sich zu dieser
Resignation des Glaubens nicht verstehn. Mit dem Glauben sollte das Chri¬
stenthum nicht aufhören, sondern erst recht anfangen; der Wicdergeborne sollte
sich unaufhörlich mit Gott und seiner eigenen Seele beschäftigen, unaufhörlich über
die Unwürdigkeit seiner Natur und die Süßigkeit der Gnade nachdenken, mit
einer Mischung von Furcht und Zittern, aber auch von wonnigem Schauer,
sich in die Geheimnisse der Ewigkeit versenken und dieser Beschäftigung gegen-


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im Einzelnen gezeigt, wie sie sich zu der Wolfschen Schule, namentlich zu Bil-
finger. Baumgarten und Meier verhalten. Um dies noch bestimmter
festzustellen, sei es uns erlaubt, etwas weiter auszuholen.

Wir fassen die Periode von 1680 — 1750 — vom Ende der zweiten schle¬
ichen Schule bis zum Messias — als eine Uebergangsperiode zusammen, die,
wie alle Uebergangsperioden, vorwiegend kritischer Natur ist. Es gilt zunächst,
mit dem Alten aufzuräumen, um dem Neuen Raum zu schaffen. Das Alte,
was nicht länger leben konnte, war 1) die orthodoxe Theologie, die sich darauf
beschränkte, gegen die Ketzer zu predigen, die Glaubensartikel in scholastischer
Wcije zu zerfasern und die Sacramente auszutheilen ; 2) die aufs Engste mit
ihr verbundene scholastische Katheder-Weisheit, die von den realen Dingen,
von dem wirklichen Leben der Nation und von ihrer Sprache sich gänzlich ge¬
trennt hatte; 3) die Poesie, die ohne allen wirklichen Inhalt des Gemüths,
nach fremden, meistens nach schlechten Mustern gebildet, nicht Bildung genug
besah, ihre innere Armuth und Leerheit zu verstecken.

Gegen das Zunftwesen der Theologen, der Philosophen und Poeten er¬
hoben sich gleichzeitig 1) der Pietismus. 2) die Leibnitz-Wolfsche Philosophie.
3) der alt nationale deutsche gesunde Menschenverstand, der in keiner Periode
unserer Literatur völlig unterdrückt war. der sich im 16. und 17. Jahrhundert
hauptsächlich in den Satirikern regte und den in unserer Periode zunächst
Christian Weise und Th omasius. später Liskow vertraten. Diese Rich¬
tungen kreuzten sich einander und führten, sobald sie zur klaren Erkenntniß ka¬
men, einen Krieg auf Leben und Tod. Bei ihrem ersten Auftreten aber wa¬
ren sie gleichmäßig gegen das Alte, gegen die zünftige Gelehrsamkeit, gegen
die zünftige Theologie, gegen die zünftige Dichtkunst gerichtet.

Der Pietismus wollte vom Christenthum etwas Positives haben. Nach
der alten Orthodoxie hatte derjenige, der glaubte, d. h. der gegen das Lehr¬
gebäude seines Beichtvaters nicht räsonnirte, vom Christenthum gar nichts mehr;
tun Religionsgeschäft war in guten Handen, und er konnte nun hingehen,
l^ben. denken und empfinde«, wie er Lust hatte. Es ist sehr charakteristisch,
und noch nicht genug hervorgehoben, daß in einer Periode, wo die Recht-
gläubigkeit am brutalsten auftrat, nebenher die Poesie sich gradeso ins Hei-
denthum verlor wie in den Zeiten der Renaissance. Man achtet darauf nicht.
>ont in der Regel Hoffmannswaldau und Lobenstein nicht mehr ge¬
lesen werden. — Spener nun und seine Nachfolger wollten sich zu dieser
Resignation des Glaubens nicht verstehn. Mit dem Glauben sollte das Chri¬
stenthum nicht aufhören, sondern erst recht anfangen; der Wicdergeborne sollte
sich unaufhörlich mit Gott und seiner eigenen Seele beschäftigen, unaufhörlich über
die Unwürdigkeit seiner Natur und die Süßigkeit der Gnade nachdenken, mit
einer Mischung von Furcht und Zittern, aber auch von wonnigem Schauer,
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[0213] im Einzelnen gezeigt, wie sie sich zu der Wolfschen Schule, namentlich zu Bil- finger. Baumgarten und Meier verhalten. Um dies noch bestimmter festzustellen, sei es uns erlaubt, etwas weiter auszuholen. Wir fassen die Periode von 1680 — 1750 — vom Ende der zweiten schle¬ ichen Schule bis zum Messias — als eine Uebergangsperiode zusammen, die, wie alle Uebergangsperioden, vorwiegend kritischer Natur ist. Es gilt zunächst, mit dem Alten aufzuräumen, um dem Neuen Raum zu schaffen. Das Alte, was nicht länger leben konnte, war 1) die orthodoxe Theologie, die sich darauf beschränkte, gegen die Ketzer zu predigen, die Glaubensartikel in scholastischer Wcije zu zerfasern und die Sacramente auszutheilen ; 2) die aufs Engste mit ihr verbundene scholastische Katheder-Weisheit, die von den realen Dingen, von dem wirklichen Leben der Nation und von ihrer Sprache sich gänzlich ge¬ trennt hatte; 3) die Poesie, die ohne allen wirklichen Inhalt des Gemüths, nach fremden, meistens nach schlechten Mustern gebildet, nicht Bildung genug besah, ihre innere Armuth und Leerheit zu verstecken. Gegen das Zunftwesen der Theologen, der Philosophen und Poeten er¬ hoben sich gleichzeitig 1) der Pietismus. 2) die Leibnitz-Wolfsche Philosophie. 3) der alt nationale deutsche gesunde Menschenverstand, der in keiner Periode unserer Literatur völlig unterdrückt war. der sich im 16. und 17. Jahrhundert hauptsächlich in den Satirikern regte und den in unserer Periode zunächst Christian Weise und Th omasius. später Liskow vertraten. Diese Rich¬ tungen kreuzten sich einander und führten, sobald sie zur klaren Erkenntniß ka¬ men, einen Krieg auf Leben und Tod. Bei ihrem ersten Auftreten aber wa¬ ren sie gleichmäßig gegen das Alte, gegen die zünftige Gelehrsamkeit, gegen die zünftige Theologie, gegen die zünftige Dichtkunst gerichtet. Der Pietismus wollte vom Christenthum etwas Positives haben. Nach der alten Orthodoxie hatte derjenige, der glaubte, d. h. der gegen das Lehr¬ gebäude seines Beichtvaters nicht räsonnirte, vom Christenthum gar nichts mehr; tun Religionsgeschäft war in guten Handen, und er konnte nun hingehen, l^ben. denken und empfinde«, wie er Lust hatte. Es ist sehr charakteristisch, und noch nicht genug hervorgehoben, daß in einer Periode, wo die Recht- gläubigkeit am brutalsten auftrat, nebenher die Poesie sich gradeso ins Hei- denthum verlor wie in den Zeiten der Renaissance. Man achtet darauf nicht. >ont in der Regel Hoffmannswaldau und Lobenstein nicht mehr ge¬ lesen werden. — Spener nun und seine Nachfolger wollten sich zu dieser Resignation des Glaubens nicht verstehn. Mit dem Glauben sollte das Chri¬ stenthum nicht aufhören, sondern erst recht anfangen; der Wicdergeborne sollte sich unaufhörlich mit Gott und seiner eigenen Seele beschäftigen, unaufhörlich über die Unwürdigkeit seiner Natur und die Süßigkeit der Gnade nachdenken, mit einer Mischung von Furcht und Zittern, aber auch von wonnigem Schauer, sich in die Geheimnisse der Ewigkeit versenken und dieser Beschäftigung gegen- 26*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/213>, abgerufen am 22.07.2024.