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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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werden sich doch wol nicht als eine von uns übrigen Deutschen gesonderte
Nation constituiren wollen.

Es kann indeß noch lange währen, bis es zu jener Stammesvereinigung
kommt. Bis dahin werden wir freudig alles begrüßen, was das gute Eim
vernehmen der Deutschen diesseit und jenseit der Demarcationslinie zu fördern
geeignet ist. Das vorliegende Buch ist sowol für die Schweizer als für die
Deutschen geschrieben: den einen eröffnet es einen Blick in das Familienleben
ihrer Literatur, den andern gibt es eine wesentliche Ergänzung für das Ver¬
ständniß ihrer allgemeinen geistigen Bewegung.

Das Buch hat zwei große Verdienste. Einmal hat der Verfasser die
handschriftlichen Quellen seiner Heimath, die ihm zu Gebote standen, sorg¬
fältig benutzt, und daher manches Neue gegeben, sodann versteht er deutlich
und ansprechend zu erzählen, was bei unsern neueren Historikern nicht immer
der Fall ist. Der Haupttadcl, der das Buch trifft, ist mit einer liebenswürdigen
Eigenschaft des Verfassers enge verbunden: er ist äußerst gutmüthig und sucht
alles aufs Beste auszulegen. Dadurch wird aber die Charakteristik nicht we¬
nig beeinträchtigt, denn bis jetzt ist es noch keinem Maler gelungen, ein Por¬
trät ohne Anwendung des Schattens deutlich zu machen. Wo er ganz aus¬
führlich darstellt,, und wo die Physiognomie durch die Natur der Sache so
stark herantritt wie bei Bodmer, hat dieser Tadel wenig zu sagen; wo man
aber die Reflexion zu Hilfe nehmen muß, um einen Charakter völlig zu ver¬
steh", wie bei Haller oder Lavater, vermißt man jene Ironie der Bildung,
ohne die der Historiker leicht monoton wird.

Die Krone des Ganzen ist die Darstellung Bot in ers, namentlich die Be¬
ziehungen zu Klopstock und Wieland, in denen die verschiedenen Richtungen
der deutschen Literatur mit so sinnlicher Klarheit hervortreten, daß man sür
ihr Zusammenwirken und ihr Aufeinanderstoßen ein deutlicheres Bild gewinnt
als aus manchen weitläufigen Deductionen. Den allgemeinen Faden für den
Zusammenhang Bodmers mit unserer Entwicklung zu finden, lag außer¬
halb der Aufgabe des Verfassers; es sei uns verstattet Einiges hinzuzu¬
fügen.

Danzel hat in seiner Schrift "über Gottsched" sehr reichhaltige Unter¬
suchungen anch über Bodmer angestellt, die freilich dadurch etwas verkümmert
werden, daß er in der Bemühung, zu einer bestimmten philosophischen For¬
mel zu kommen, den Standpunkt zu einseitig festhält. Das Resultat, zu wel¬
chem er gelangt zu sein glaubt, daß Gottsched die Aesthetik und Kritik vom
praktischen, Bodmer dagegen vom theoretischen Standpunkt betrachtet, ist
zwar nicht unrichtig, aber keineswegs ausreichend. Auch der Inhalt ist be>
beiden sehr verschieden; nicht blos die Mittel der Poesie, sondern ihr letzter
Zweck erschien ihnen im entgegengesetzten Licht. Sehr richtig dagegen hat
Danzel nachgewiesen, daß beide Theile sich auf Wolf stützen; er hat ferner


werden sich doch wol nicht als eine von uns übrigen Deutschen gesonderte
Nation constituiren wollen.

Es kann indeß noch lange währen, bis es zu jener Stammesvereinigung
kommt. Bis dahin werden wir freudig alles begrüßen, was das gute Eim
vernehmen der Deutschen diesseit und jenseit der Demarcationslinie zu fördern
geeignet ist. Das vorliegende Buch ist sowol für die Schweizer als für die
Deutschen geschrieben: den einen eröffnet es einen Blick in das Familienleben
ihrer Literatur, den andern gibt es eine wesentliche Ergänzung für das Ver¬
ständniß ihrer allgemeinen geistigen Bewegung.

Das Buch hat zwei große Verdienste. Einmal hat der Verfasser die
handschriftlichen Quellen seiner Heimath, die ihm zu Gebote standen, sorg¬
fältig benutzt, und daher manches Neue gegeben, sodann versteht er deutlich
und ansprechend zu erzählen, was bei unsern neueren Historikern nicht immer
der Fall ist. Der Haupttadcl, der das Buch trifft, ist mit einer liebenswürdigen
Eigenschaft des Verfassers enge verbunden: er ist äußerst gutmüthig und sucht
alles aufs Beste auszulegen. Dadurch wird aber die Charakteristik nicht we¬
nig beeinträchtigt, denn bis jetzt ist es noch keinem Maler gelungen, ein Por¬
trät ohne Anwendung des Schattens deutlich zu machen. Wo er ganz aus¬
führlich darstellt,, und wo die Physiognomie durch die Natur der Sache so
stark herantritt wie bei Bodmer, hat dieser Tadel wenig zu sagen; wo man
aber die Reflexion zu Hilfe nehmen muß, um einen Charakter völlig zu ver¬
steh«, wie bei Haller oder Lavater, vermißt man jene Ironie der Bildung,
ohne die der Historiker leicht monoton wird.

Die Krone des Ganzen ist die Darstellung Bot in ers, namentlich die Be¬
ziehungen zu Klopstock und Wieland, in denen die verschiedenen Richtungen
der deutschen Literatur mit so sinnlicher Klarheit hervortreten, daß man sür
ihr Zusammenwirken und ihr Aufeinanderstoßen ein deutlicheres Bild gewinnt
als aus manchen weitläufigen Deductionen. Den allgemeinen Faden für den
Zusammenhang Bodmers mit unserer Entwicklung zu finden, lag außer¬
halb der Aufgabe des Verfassers; es sei uns verstattet Einiges hinzuzu¬
fügen.

Danzel hat in seiner Schrift „über Gottsched" sehr reichhaltige Unter¬
suchungen anch über Bodmer angestellt, die freilich dadurch etwas verkümmert
werden, daß er in der Bemühung, zu einer bestimmten philosophischen For¬
mel zu kommen, den Standpunkt zu einseitig festhält. Das Resultat, zu wel¬
chem er gelangt zu sein glaubt, daß Gottsched die Aesthetik und Kritik vom
praktischen, Bodmer dagegen vom theoretischen Standpunkt betrachtet, ist
zwar nicht unrichtig, aber keineswegs ausreichend. Auch der Inhalt ist be>
beiden sehr verschieden; nicht blos die Mittel der Poesie, sondern ihr letzter
Zweck erschien ihnen im entgegengesetzten Licht. Sehr richtig dagegen hat
Danzel nachgewiesen, daß beide Theile sich auf Wolf stützen; er hat ferner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/212>, abgerufen am 03.07.2024.