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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Die schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts.

Von Mörikofer.

Bei unserm lebhaft aufgeregten Nationalgefühl haben wir uns in der
letzten Zeit nach allen Seiten umgesehn, was uns gehört und was wir nicht
herausgeben dürfen: wir haben z. B. gefunden, daß,uns Venedig gehört,
Ungarn und noch manches andere. Seltsamer Weise ist noch Keinem ein¬
gefallen, daß weit mehr als alle diese Länder die Schweiz zu uns zu rechnen
lst. Unser Leben greift viel inniger und unmittelbarer in das Leben der
Schweiz als in jene Besitztümer des Hauses Oestreich, namentlich wenn man
die Literatur des vorigen Jahrhunderts ins Auge faßt. Wir haben im
Ganzen, wie sich geziemt, mehr gegeben, aber wir haben auch viel empfangen,
und die gegenwärtige Schrift ist ein Inventarium dessen, was wir unsern
Landsleuten, den Eidgenossen, schuldig sind. Es ist nicht etwa eine Wechsel-
Wirkung aus zweiter Hand, wie zwischen allen gebildeten Nationen stattfindet;
sondern diese Männer, die Bodmer. Haller. Drollinger. Geßner. Lavater.
Pestalozzi. Müller u. s. w. haben wirklich in Deutschland gelebt, und wenn
Wir nicht aus der politischen Geographie wüßten, daß Zürich. Bern. Schnff-
hausen außerhalb des deutschen Bundes liegen, aus'ihren Schriften würden
wir es nicht erfahren. Das ist nicht so zu verstehn. als ob sie, durch die
deutsche Literatur angeregt, sich ihrer Heimath entfremdet hätten: sie waren
ebenso gute Eidgenossen als Deutsche; Eidgenossen ihrem politischen Verband
"ach. Deutsche als Nation.

Mögen unsere Landsleute an der Limmat nicht fürchten, daß wir nun auf
Grund des Nationalitätsprincips einen Eroberungszug gegen sie vorhaben.
Wir haben nicht die geringste Veranlassung, sie zu Unterthanen des Königs
von Würtemberg oder des Königs von Baiern oder eines andern Potentaten
^ machen; und sie der Hoheit des deutschen Bundes zu unterwerfen, kann
Referent um so weniger gemeint sein, da er selber als Ostpreuße außerhalb
der Pflicht des deutschen Bundes steht. Aber über kurz oder lang wird doch
wol die Zeit kommen, wo es der großen deutschen Nation gelingt, sich in
ewem großen politischen Bau zu vereinigen, und bis dahin werden sich hoffent¬
lich die Interessen so weit genähert haben, daß wir allgemein den Se. Gott-
hard als unsere natürliche Grenze gegen Italien begreifen. Wenn die Schweizer
"nen andern Dialekt sprechen als wir, so ist das ja in Norddeutschland auch
der Fall, und die plattdeutschen Dichter, die in den letzten Jahren mit ebenso
viel Eiser als Erfolg das Haus- und Familienrecht ihrer Mundart vertreten,


Grenzboten I. 1861. 2K
Die schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts.

Von Mörikofer.

Bei unserm lebhaft aufgeregten Nationalgefühl haben wir uns in der
letzten Zeit nach allen Seiten umgesehn, was uns gehört und was wir nicht
herausgeben dürfen: wir haben z. B. gefunden, daß,uns Venedig gehört,
Ungarn und noch manches andere. Seltsamer Weise ist noch Keinem ein¬
gefallen, daß weit mehr als alle diese Länder die Schweiz zu uns zu rechnen
lst. Unser Leben greift viel inniger und unmittelbarer in das Leben der
Schweiz als in jene Besitztümer des Hauses Oestreich, namentlich wenn man
die Literatur des vorigen Jahrhunderts ins Auge faßt. Wir haben im
Ganzen, wie sich geziemt, mehr gegeben, aber wir haben auch viel empfangen,
und die gegenwärtige Schrift ist ein Inventarium dessen, was wir unsern
Landsleuten, den Eidgenossen, schuldig sind. Es ist nicht etwa eine Wechsel-
Wirkung aus zweiter Hand, wie zwischen allen gebildeten Nationen stattfindet;
sondern diese Männer, die Bodmer. Haller. Drollinger. Geßner. Lavater.
Pestalozzi. Müller u. s. w. haben wirklich in Deutschland gelebt, und wenn
Wir nicht aus der politischen Geographie wüßten, daß Zürich. Bern. Schnff-
hausen außerhalb des deutschen Bundes liegen, aus'ihren Schriften würden
wir es nicht erfahren. Das ist nicht so zu verstehn. als ob sie, durch die
deutsche Literatur angeregt, sich ihrer Heimath entfremdet hätten: sie waren
ebenso gute Eidgenossen als Deutsche; Eidgenossen ihrem politischen Verband
«ach. Deutsche als Nation.

Mögen unsere Landsleute an der Limmat nicht fürchten, daß wir nun auf
Grund des Nationalitätsprincips einen Eroberungszug gegen sie vorhaben.
Wir haben nicht die geringste Veranlassung, sie zu Unterthanen des Königs
von Würtemberg oder des Königs von Baiern oder eines andern Potentaten
^ machen; und sie der Hoheit des deutschen Bundes zu unterwerfen, kann
Referent um so weniger gemeint sein, da er selber als Ostpreuße außerhalb
der Pflicht des deutschen Bundes steht. Aber über kurz oder lang wird doch
wol die Zeit kommen, wo es der großen deutschen Nation gelingt, sich in
ewem großen politischen Bau zu vereinigen, und bis dahin werden sich hoffent¬
lich die Interessen so weit genähert haben, daß wir allgemein den Se. Gott-
hard als unsere natürliche Grenze gegen Italien begreifen. Wenn die Schweizer
"nen andern Dialekt sprechen als wir, so ist das ja in Norddeutschland auch
der Fall, und die plattdeutschen Dichter, die in den letzten Jahren mit ebenso
viel Eiser als Erfolg das Haus- und Familienrecht ihrer Mundart vertreten,


Grenzboten I. 1861. 2K
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[0211] Die schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Von Mörikofer. Bei unserm lebhaft aufgeregten Nationalgefühl haben wir uns in der letzten Zeit nach allen Seiten umgesehn, was uns gehört und was wir nicht herausgeben dürfen: wir haben z. B. gefunden, daß,uns Venedig gehört, Ungarn und noch manches andere. Seltsamer Weise ist noch Keinem ein¬ gefallen, daß weit mehr als alle diese Länder die Schweiz zu uns zu rechnen lst. Unser Leben greift viel inniger und unmittelbarer in das Leben der Schweiz als in jene Besitztümer des Hauses Oestreich, namentlich wenn man die Literatur des vorigen Jahrhunderts ins Auge faßt. Wir haben im Ganzen, wie sich geziemt, mehr gegeben, aber wir haben auch viel empfangen, und die gegenwärtige Schrift ist ein Inventarium dessen, was wir unsern Landsleuten, den Eidgenossen, schuldig sind. Es ist nicht etwa eine Wechsel- Wirkung aus zweiter Hand, wie zwischen allen gebildeten Nationen stattfindet; sondern diese Männer, die Bodmer. Haller. Drollinger. Geßner. Lavater. Pestalozzi. Müller u. s. w. haben wirklich in Deutschland gelebt, und wenn Wir nicht aus der politischen Geographie wüßten, daß Zürich. Bern. Schnff- hausen außerhalb des deutschen Bundes liegen, aus'ihren Schriften würden wir es nicht erfahren. Das ist nicht so zu verstehn. als ob sie, durch die deutsche Literatur angeregt, sich ihrer Heimath entfremdet hätten: sie waren ebenso gute Eidgenossen als Deutsche; Eidgenossen ihrem politischen Verband «ach. Deutsche als Nation. Mögen unsere Landsleute an der Limmat nicht fürchten, daß wir nun auf Grund des Nationalitätsprincips einen Eroberungszug gegen sie vorhaben. Wir haben nicht die geringste Veranlassung, sie zu Unterthanen des Königs von Würtemberg oder des Königs von Baiern oder eines andern Potentaten ^ machen; und sie der Hoheit des deutschen Bundes zu unterwerfen, kann Referent um so weniger gemeint sein, da er selber als Ostpreuße außerhalb der Pflicht des deutschen Bundes steht. Aber über kurz oder lang wird doch wol die Zeit kommen, wo es der großen deutschen Nation gelingt, sich in ewem großen politischen Bau zu vereinigen, und bis dahin werden sich hoffent¬ lich die Interessen so weit genähert haben, daß wir allgemein den Se. Gott- hard als unsere natürliche Grenze gegen Italien begreifen. Wenn die Schweizer "nen andern Dialekt sprechen als wir, so ist das ja in Norddeutschland auch der Fall, und die plattdeutschen Dichter, die in den letzten Jahren mit ebenso viel Eiser als Erfolg das Haus- und Familienrecht ihrer Mundart vertreten, Grenzboten I. 1861. 2K

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/211>, abgerufen am 01.07.2024.