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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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derbar, mit welchem Eifer die deutsche Belletristik an den Mollusken klebt.
Kotzebue in roh gemeiner, Tieck in zierlich raffinirter Weise haben gleichmäßig
darauf hingearbeitet; die jungdeutsche Literatur hat von beiden gezehrt. --
Und es ist um den Verfasser schade, er ist nicht ohne Talent für die Charak¬
teristik, äußere Staffagen sind mitunter vortrefflich: hätte er sich bemüht, statt
der problematischen Naturen lebendige Naturen zu schildern, so wäre ihm mehr
gelungen. Nicht Oldenburg, nicht Arnold, nicht Melitta, Helena u. s. w.,
sondern der alte Grenwitz. Anna Maria sind gelungen. Dem Dichter ist es
nicht verwehrt, auch die bloße Schwäche zu schildern, aber sie muß sich nicht
in den Mittelpunkt des moralischen Interesses drängen, sie muß sich nicht
für Stärke ausgeben wollen. Daß einer hübsch, kräftig an Körper, geistreich
u. s. w. ist. genügt noch nicht: er muß auch in geistiger Beziehung Knochen
haben, eine wirkliche Gestalt, sonst hat er auch kein Schicksal und kann kein
dauerndes Interesse erregen. -- Sollte etwa auch dieser Roman das Neben¬
interesse haben, das Junkerthum in seiner Nullität zu zeigen, so würde er
diesem Zweck besser entsprechen, wenn er die Sache ernster nähme. In dem
vorliegenden Bild wird sich das Junkerthum nicht wieder erkennen. --

Heinrich Waldeck: die Egoisten. (Leipzig, Lork.) -- Wieder zwei
problematische Naturen, der Freiherr Adolph und der Maler Müller, die nicht
wissen was sie wollen, die eben darum sogar zum Verbrechen getrieben wer¬
den, dann Reue fühlen u. f. w. -- Und diese "Jugend" wird der alten starren
Aristokratie gegenüber gestellt. Diese Jugend wird die Aristokratie nicht
stürzen, und im Gespräch zwischen dem alten Baron Benzbach und dem Sohn,
der immer Schiller und Göthe citirt, sind wir sehr geneigt, für die Mi'la,
pvtestg.8 einzutreten. --

Illustrirter Novellen-Almanach für 1861 (Leipzig, Schräg) enthält eine
Criminalgeschichte von Temme in dem bekannten Stil dieses Novellisten,
und Novelletten von Levin Schücking, Heinrich Konig, Louise Mühl¬
bach und Baronin Gravenreuth (bekannt durch ihre Disputation mit
Gutzkow). --

Carl Wartenburg: Neue Propheten, Roman in 2 Bdn. (Leipzig, Gru-
now). Die Heerlager der beiden politischen Parteien sind geschildert: auf der
einen Seite, um den romantisch gesinnten König sich gruppirend, ein ordens¬
süchtiger Hofmann, ein fanatischer Reactionär Marecampus, der als Jesuit
endet, und sein Helfershelfer, ein wüster Duellant und falscher Spieler, der
unter Don Carlos und König Ferdinand von Neapel gedient; ihnen gegenüber
ein feuriger Redacteur, ein sinniger Doctor und ein Schriftsetzer, der seinen


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derbar, mit welchem Eifer die deutsche Belletristik an den Mollusken klebt.
Kotzebue in roh gemeiner, Tieck in zierlich raffinirter Weise haben gleichmäßig
darauf hingearbeitet; die jungdeutsche Literatur hat von beiden gezehrt. —
Und es ist um den Verfasser schade, er ist nicht ohne Talent für die Charak¬
teristik, äußere Staffagen sind mitunter vortrefflich: hätte er sich bemüht, statt
der problematischen Naturen lebendige Naturen zu schildern, so wäre ihm mehr
gelungen. Nicht Oldenburg, nicht Arnold, nicht Melitta, Helena u. s. w.,
sondern der alte Grenwitz. Anna Maria sind gelungen. Dem Dichter ist es
nicht verwehrt, auch die bloße Schwäche zu schildern, aber sie muß sich nicht
in den Mittelpunkt des moralischen Interesses drängen, sie muß sich nicht
für Stärke ausgeben wollen. Daß einer hübsch, kräftig an Körper, geistreich
u. s. w. ist. genügt noch nicht: er muß auch in geistiger Beziehung Knochen
haben, eine wirkliche Gestalt, sonst hat er auch kein Schicksal und kann kein
dauerndes Interesse erregen. — Sollte etwa auch dieser Roman das Neben¬
interesse haben, das Junkerthum in seiner Nullität zu zeigen, so würde er
diesem Zweck besser entsprechen, wenn er die Sache ernster nähme. In dem
vorliegenden Bild wird sich das Junkerthum nicht wieder erkennen. —

Heinrich Waldeck: die Egoisten. (Leipzig, Lork.) — Wieder zwei
problematische Naturen, der Freiherr Adolph und der Maler Müller, die nicht
wissen was sie wollen, die eben darum sogar zum Verbrechen getrieben wer¬
den, dann Reue fühlen u. f. w. — Und diese „Jugend" wird der alten starren
Aristokratie gegenüber gestellt. Diese Jugend wird die Aristokratie nicht
stürzen, und im Gespräch zwischen dem alten Baron Benzbach und dem Sohn,
der immer Schiller und Göthe citirt, sind wir sehr geneigt, für die Mi'la,
pvtestg.8 einzutreten. —

Illustrirter Novellen-Almanach für 1861 (Leipzig, Schräg) enthält eine
Criminalgeschichte von Temme in dem bekannten Stil dieses Novellisten,
und Novelletten von Levin Schücking, Heinrich Konig, Louise Mühl¬
bach und Baronin Gravenreuth (bekannt durch ihre Disputation mit
Gutzkow). —

Carl Wartenburg: Neue Propheten, Roman in 2 Bdn. (Leipzig, Gru-
now). Die Heerlager der beiden politischen Parteien sind geschildert: auf der
einen Seite, um den romantisch gesinnten König sich gruppirend, ein ordens¬
süchtiger Hofmann, ein fanatischer Reactionär Marecampus, der als Jesuit
endet, und sein Helfershelfer, ein wüster Duellant und falscher Spieler, der
unter Don Carlos und König Ferdinand von Neapel gedient; ihnen gegenüber
ein feuriger Redacteur, ein sinniger Doctor und ein Schriftsetzer, der seinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/501>, abgerufen am 15.01.2025.