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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Kirche zur andern nach dem Grundsatz der Reciprocität regelte und erleichterte
und auch solche gemischte Ehen für zulässig erklärte, die vor dem evangelischen
Seelsorger geschlossen worden. Nach mancher heißen Schlacht im Landtags¬
saale erschien endlich im Jahre 1848 ein Gesetz, welches dem Grundsatz der
Rechtsgleichheit und Gegenseitigkeit zur vollen Anerkennung verhalf. Allein
dieses Gesetz wurde während der letzten zehnjährigen Neactionsepoche ganz der
Seite geschoben. Zwar gewährte das bekannte k. Patent vom 1. Sept. 1859
der evang. Kirche in Ungarn eine jährliche Dotation aus dem Staatsschatze
und eine eigne Abtheilung im Ministerium für Cultus und Unterricht, welche
später auf die gesammte evangelische Kirche im Kaiscrstciate ausgedehnt wurde.
Zwar sprach dasselbe Patent aus, daß der Staat sein Oberaussichtsrecht über
das evang. Kirchen- und Schulwesen nur durch evangelische Männer ausüben
wolle, und daß die in Ungarn bestehende Kirchenfreiheit auch auf die Evan¬
gelischen in Kroatien, Slavonien und der Militnrgrenze auszudehnen sei. Zwar
hat ein späteres k. Handschreiben auch für die evang. Militärseelsorge in Un¬
garn wie in den übrigen Theilen des Staates in ausgiebiger Weise gesorgt;
allein zur vollen, durchgängigen Vollziehung ist jenes 1843 er Gesetz nie ge¬
langt. Vielmehr trat zwischen dieses Gesetz und die Durchführung desselben
im Jahre 1855 das Concordat mit Rom, welches das canonische Recht wieder¬
herstellte und die Privilegien der römisch-katholischen Kirche, insbesondre auf
dem Gebiete der gemischten Ehen, in Permanenz erklärte. Und mußte es schon
im vorigen Jahre schmerzlich berühren, daß Graf Thun den die confessionelle
Rechtsgleichheit verbürgender 20. Art. vom Jahr 1848 nicht ausdrücklich in
das am 1. Sept. 1859 vom Kaiser sanctionirte ungarische Protestantenpatcnt
aufgenommen hatte, so muß es heute vollends mit Entrüstung erfüllen, daß
der genannte Artikel auch im "Diplom" vom 20. October keine Stelle gefun¬
den und der reformirte Baron von Vay dessenungeachtet die Kanzlerschaft sür
Ungarn angenommen hat.

Indem wir auf die deutsch-slavischen Kronländer übergehn, können wir
mit gutem Fug sagen, daß der Rechtszustand der evangelischen Kirche in den¬
selben eine wahre Musterkarte ist. Anders ist derselbe in Galizien mit der
Bukowina, anders in Schlesien, anders in den übrigen deutsch-slavischen Lan¬
den, welche zusammen den evangelischen Consistorien in Wien unterstehn; an¬
ders wieder in den böhmischen Enclaven Asch, Sorg und Neuberg, welche, als
unter einem eigenen Consistorium stehend, von der Wiener Kirchen-Staats¬
behörde eximirt sind. Der polnische Theilungstractat vom Jahre 1773 ge¬
währte den Dissidenten in Galizien und die Alt-Ranstädter Convention vom
Jahre 1707 den schlesischen Protestanten mehr als das spätere Toleranzpa¬
tent Josephs des Zweiten, indem dieselben namentlich festsetzten, daß die
Kinder aus gemischten Ehen nach den Eheverträgen und nach dem Geschlechte


Kirche zur andern nach dem Grundsatz der Reciprocität regelte und erleichterte
und auch solche gemischte Ehen für zulässig erklärte, die vor dem evangelischen
Seelsorger geschlossen worden. Nach mancher heißen Schlacht im Landtags¬
saale erschien endlich im Jahre 1848 ein Gesetz, welches dem Grundsatz der
Rechtsgleichheit und Gegenseitigkeit zur vollen Anerkennung verhalf. Allein
dieses Gesetz wurde während der letzten zehnjährigen Neactionsepoche ganz der
Seite geschoben. Zwar gewährte das bekannte k. Patent vom 1. Sept. 1859
der evang. Kirche in Ungarn eine jährliche Dotation aus dem Staatsschatze
und eine eigne Abtheilung im Ministerium für Cultus und Unterricht, welche
später auf die gesammte evangelische Kirche im Kaiscrstciate ausgedehnt wurde.
Zwar sprach dasselbe Patent aus, daß der Staat sein Oberaussichtsrecht über
das evang. Kirchen- und Schulwesen nur durch evangelische Männer ausüben
wolle, und daß die in Ungarn bestehende Kirchenfreiheit auch auf die Evan¬
gelischen in Kroatien, Slavonien und der Militnrgrenze auszudehnen sei. Zwar
hat ein späteres k. Handschreiben auch für die evang. Militärseelsorge in Un¬
garn wie in den übrigen Theilen des Staates in ausgiebiger Weise gesorgt;
allein zur vollen, durchgängigen Vollziehung ist jenes 1843 er Gesetz nie ge¬
langt. Vielmehr trat zwischen dieses Gesetz und die Durchführung desselben
im Jahre 1855 das Concordat mit Rom, welches das canonische Recht wieder¬
herstellte und die Privilegien der römisch-katholischen Kirche, insbesondre auf
dem Gebiete der gemischten Ehen, in Permanenz erklärte. Und mußte es schon
im vorigen Jahre schmerzlich berühren, daß Graf Thun den die confessionelle
Rechtsgleichheit verbürgender 20. Art. vom Jahr 1848 nicht ausdrücklich in
das am 1. Sept. 1859 vom Kaiser sanctionirte ungarische Protestantenpatcnt
aufgenommen hatte, so muß es heute vollends mit Entrüstung erfüllen, daß
der genannte Artikel auch im „Diplom" vom 20. October keine Stelle gefun¬
den und der reformirte Baron von Vay dessenungeachtet die Kanzlerschaft sür
Ungarn angenommen hat.

Indem wir auf die deutsch-slavischen Kronländer übergehn, können wir
mit gutem Fug sagen, daß der Rechtszustand der evangelischen Kirche in den¬
selben eine wahre Musterkarte ist. Anders ist derselbe in Galizien mit der
Bukowina, anders in Schlesien, anders in den übrigen deutsch-slavischen Lan¬
den, welche zusammen den evangelischen Consistorien in Wien unterstehn; an¬
ders wieder in den böhmischen Enclaven Asch, Sorg und Neuberg, welche, als
unter einem eigenen Consistorium stehend, von der Wiener Kirchen-Staats¬
behörde eximirt sind. Der polnische Theilungstractat vom Jahre 1773 ge¬
währte den Dissidenten in Galizien und die Alt-Ranstädter Convention vom
Jahre 1707 den schlesischen Protestanten mehr als das spätere Toleranzpa¬
tent Josephs des Zweiten, indem dieselben namentlich festsetzten, daß die
Kinder aus gemischten Ehen nach den Eheverträgen und nach dem Geschlechte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/473>, abgerufen am 15.01.2025.