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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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offene Mitwirkung, doch wenigstens ni"s stille Sympathie rechnen; und was
die Nachgiebigkeit betrifft, so weiß man, daß diese an dem Willen des Re¬
genten bestimmte Grenzen hat.

Es ist besser geworden in der innern Verwaltung. Die neuen Minister
sind nicht nur persönlich Ehrenmänner, sondern sie haben ein warmes Herz für
die Bedürfnisse des Volks. Das Reich der Angeber und Spione ist zu Ende; an
den Waggons drängt sich nicht mehr die Polizei, um Jeden zu untersuchen,
ob er nicht ein Beutelschneider oder ein Demokrat sei; die Polizei dringt
nicht mehr in das Innere der Häuser, um nach sreigemeindlichen Büchern zu
suchen; so weit der persönliche Einfluß der Minister reicht -- was freilich
seine Grenzen hat -- ist jede Willkür abgeschnitten; jeder berechtigte Wunsch
des Volks findet bei ihnen wenn nicht lauten Beifall doch stille Sympathie.

Es ist besser geworden in der Gesetzgebung. Die Reaction brachte Jahr
aus Jahr ein neue Gesetze zu Gunsten des Feudalismus in Vorschlag, von
denen die meisten, weil sie unausführbar waren, wieder bei Seite gelegt
werden mußten, so daß bei der allgemeinen Verwirrung es selbst für den
Gesetzeskundigen schwer wurde, in jedem Fall zu sagen, was Rechtens sei und
was nicht. Das hat jetzt aufgehört. Zwar bestehn viele anarchische Zustände
noch fort, bei denen eine schleunige Abhilfe nöthig wäre, allein die Verwirrung
ist wenigstens durch neue Gesetze nicht gesteigert.

Das alles sind sehr wichtige, sehr segensreiche Fortschritte, und wenn
man den Namen der neuen Aera auch häufig gemißbraucht hat, so ist er
doch insofern vollkommen berechtigt, als wir jetzt freie Luft zum Athmen
haben. Wir können leben, und das ist keine Kleinigkeit! Vorher waren wir
dem Ersticken nahe.

Aber die Sache hat auch ihre Kehrseite. Lebten wir in ruhigen, gefahr¬
losen Zeiten, so wäre es denkbar, daß der gesunde Lebenstrieb unsres Orga¬
nismus durch eigne Kraft seine Schäden heilte, ohne daß die Minister etwas
dazu thäten, Das ist aber nicht der Fall. Wir stehn in der Mitte einer
ungeheuern Krisis, die Europa eine neue Gestalt geben muß. In dieser Krisis
genügt, um sich aufrecht zu halten, der gute Wille keineswegs: Kraft ist dazu
nöthig und Entschlossenheit. Und hier ist sehr die Frage, ob wir nicht un¬
günstiger stehn als vor zwei Jahren.

Sehen wir zuerst die auswärtige Politik an. Ein kurzer aber entschei¬
dender Krieg ist geführt worden; in Folge dessen hat sich Frankreich verstärkt,
ein neuer zukunftsreicher Staat ist an unsern Grenzen entstanden, und beide
Staaten sind durch unsere Politik zu unsern Gegnern gemacht. Oestreich, aufs
Tiefste erschüttert, geht dem Bankerott und, wenn nicht alle Zeichen trügen,
dem Zerfall entgegen. Die deutschen Mittelstaaten, früher vereinzelt, haben
eine enge Solidarität unter sich aufgerichtet, deren Spitze gegen Preußen ge-


offene Mitwirkung, doch wenigstens ni»s stille Sympathie rechnen; und was
die Nachgiebigkeit betrifft, so weiß man, daß diese an dem Willen des Re¬
genten bestimmte Grenzen hat.

Es ist besser geworden in der innern Verwaltung. Die neuen Minister
sind nicht nur persönlich Ehrenmänner, sondern sie haben ein warmes Herz für
die Bedürfnisse des Volks. Das Reich der Angeber und Spione ist zu Ende; an
den Waggons drängt sich nicht mehr die Polizei, um Jeden zu untersuchen,
ob er nicht ein Beutelschneider oder ein Demokrat sei; die Polizei dringt
nicht mehr in das Innere der Häuser, um nach sreigemeindlichen Büchern zu
suchen; so weit der persönliche Einfluß der Minister reicht — was freilich
seine Grenzen hat — ist jede Willkür abgeschnitten; jeder berechtigte Wunsch
des Volks findet bei ihnen wenn nicht lauten Beifall doch stille Sympathie.

Es ist besser geworden in der Gesetzgebung. Die Reaction brachte Jahr
aus Jahr ein neue Gesetze zu Gunsten des Feudalismus in Vorschlag, von
denen die meisten, weil sie unausführbar waren, wieder bei Seite gelegt
werden mußten, so daß bei der allgemeinen Verwirrung es selbst für den
Gesetzeskundigen schwer wurde, in jedem Fall zu sagen, was Rechtens sei und
was nicht. Das hat jetzt aufgehört. Zwar bestehn viele anarchische Zustände
noch fort, bei denen eine schleunige Abhilfe nöthig wäre, allein die Verwirrung
ist wenigstens durch neue Gesetze nicht gesteigert.

Das alles sind sehr wichtige, sehr segensreiche Fortschritte, und wenn
man den Namen der neuen Aera auch häufig gemißbraucht hat, so ist er
doch insofern vollkommen berechtigt, als wir jetzt freie Luft zum Athmen
haben. Wir können leben, und das ist keine Kleinigkeit! Vorher waren wir
dem Ersticken nahe.

Aber die Sache hat auch ihre Kehrseite. Lebten wir in ruhigen, gefahr¬
losen Zeiten, so wäre es denkbar, daß der gesunde Lebenstrieb unsres Orga¬
nismus durch eigne Kraft seine Schäden heilte, ohne daß die Minister etwas
dazu thäten, Das ist aber nicht der Fall. Wir stehn in der Mitte einer
ungeheuern Krisis, die Europa eine neue Gestalt geben muß. In dieser Krisis
genügt, um sich aufrecht zu halten, der gute Wille keineswegs: Kraft ist dazu
nöthig und Entschlossenheit. Und hier ist sehr die Frage, ob wir nicht un¬
günstiger stehn als vor zwei Jahren.

Sehen wir zuerst die auswärtige Politik an. Ein kurzer aber entschei¬
dender Krieg ist geführt worden; in Folge dessen hat sich Frankreich verstärkt,
ein neuer zukunftsreicher Staat ist an unsern Grenzen entstanden, und beide
Staaten sind durch unsere Politik zu unsern Gegnern gemacht. Oestreich, aufs
Tiefste erschüttert, geht dem Bankerott und, wenn nicht alle Zeichen trügen,
dem Zerfall entgegen. Die deutschen Mittelstaaten, früher vereinzelt, haben
eine enge Solidarität unter sich aufgerichtet, deren Spitze gegen Preußen ge-


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[0448] offene Mitwirkung, doch wenigstens ni»s stille Sympathie rechnen; und was die Nachgiebigkeit betrifft, so weiß man, daß diese an dem Willen des Re¬ genten bestimmte Grenzen hat. Es ist besser geworden in der innern Verwaltung. Die neuen Minister sind nicht nur persönlich Ehrenmänner, sondern sie haben ein warmes Herz für die Bedürfnisse des Volks. Das Reich der Angeber und Spione ist zu Ende; an den Waggons drängt sich nicht mehr die Polizei, um Jeden zu untersuchen, ob er nicht ein Beutelschneider oder ein Demokrat sei; die Polizei dringt nicht mehr in das Innere der Häuser, um nach sreigemeindlichen Büchern zu suchen; so weit der persönliche Einfluß der Minister reicht — was freilich seine Grenzen hat — ist jede Willkür abgeschnitten; jeder berechtigte Wunsch des Volks findet bei ihnen wenn nicht lauten Beifall doch stille Sympathie. Es ist besser geworden in der Gesetzgebung. Die Reaction brachte Jahr aus Jahr ein neue Gesetze zu Gunsten des Feudalismus in Vorschlag, von denen die meisten, weil sie unausführbar waren, wieder bei Seite gelegt werden mußten, so daß bei der allgemeinen Verwirrung es selbst für den Gesetzeskundigen schwer wurde, in jedem Fall zu sagen, was Rechtens sei und was nicht. Das hat jetzt aufgehört. Zwar bestehn viele anarchische Zustände noch fort, bei denen eine schleunige Abhilfe nöthig wäre, allein die Verwirrung ist wenigstens durch neue Gesetze nicht gesteigert. Das alles sind sehr wichtige, sehr segensreiche Fortschritte, und wenn man den Namen der neuen Aera auch häufig gemißbraucht hat, so ist er doch insofern vollkommen berechtigt, als wir jetzt freie Luft zum Athmen haben. Wir können leben, und das ist keine Kleinigkeit! Vorher waren wir dem Ersticken nahe. Aber die Sache hat auch ihre Kehrseite. Lebten wir in ruhigen, gefahr¬ losen Zeiten, so wäre es denkbar, daß der gesunde Lebenstrieb unsres Orga¬ nismus durch eigne Kraft seine Schäden heilte, ohne daß die Minister etwas dazu thäten, Das ist aber nicht der Fall. Wir stehn in der Mitte einer ungeheuern Krisis, die Europa eine neue Gestalt geben muß. In dieser Krisis genügt, um sich aufrecht zu halten, der gute Wille keineswegs: Kraft ist dazu nöthig und Entschlossenheit. Und hier ist sehr die Frage, ob wir nicht un¬ günstiger stehn als vor zwei Jahren. Sehen wir zuerst die auswärtige Politik an. Ein kurzer aber entschei¬ dender Krieg ist geführt worden; in Folge dessen hat sich Frankreich verstärkt, ein neuer zukunftsreicher Staat ist an unsern Grenzen entstanden, und beide Staaten sind durch unsere Politik zu unsern Gegnern gemacht. Oestreich, aufs Tiefste erschüttert, geht dem Bankerott und, wenn nicht alle Zeichen trügen, dem Zerfall entgegen. Die deutschen Mittelstaaten, früher vereinzelt, haben eine enge Solidarität unter sich aufgerichtet, deren Spitze gegen Preußen ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/448>, abgerufen am 15.01.2025.