Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.wirklich noch zu glauben. Möchte der allgemeine Schrei, der sich über ihr In der moralischen Welt wie in der physischen hat alles was geschieht Freilich ist vieles besser geworden in unserm öffentlichen Leben, in unserer Es ist besser geworden in unserer auswärtigen Politik. Zur Zeit des 54*
wirklich noch zu glauben. Möchte der allgemeine Schrei, der sich über ihr In der moralischen Welt wie in der physischen hat alles was geschieht Freilich ist vieles besser geworden in unserm öffentlichen Leben, in unserer Es ist besser geworden in unserer auswärtigen Politik. Zur Zeit des 54*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0447" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110795"/> <p xml:id="ID_1364" prev="#ID_1363"> wirklich noch zu glauben. Möchte der allgemeine Schrei, der sich über ihr<lb/> Verfahren durch die ganze Presse erhebt, sie endlich eines andern überführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1365"> In der moralischen Welt wie in der physischen hat alles was geschieht<lb/> seine Folgen: seine Folgen, die man durch bloße Nichtbeachtung nicht heilt.<lb/> Die Folgen des Regiments von 1850—58 beschränkten sich nicht auf die Mi-<lb/> nisterhotels; sie haben sich bis auf die untersten Schichten des Volksleben's<lb/> ausgedehnt. Das preußische Becnntenthum ist nicht mehr, was es 1847 war;<lb/> die Angeberei und die Augendienern hat ihr Werk gethan, ja die Stände<lb/> haben eine ganz andere Richtung genommen, der Adel und das Bürgerthum<lb/> sind ins Parteileben eingeführt; die sogenannte politische Gesinnung hat den<lb/> Begriff der Amtsehre überwuchert, selbst das Militär ist durch fortdauernde<lb/> Bearbeitung verleitet, sich als den verpflichteten Träger einer politischen Partei<lb/> zu betrachten. Die Atmosphäre, in der bei weitem der größere Theil derer,<lb/> die am politischen Leben praktischen Antheil nehmen, leben, athmen, denken<lb/> und empfinden, ist die Atmosphäre der Kreuzzeitung. In dieser Atmosphäre<lb/> steht das Ministerium bis jetzt völlig isolirt; zuerst gehaßt und gefürchtet, jetzt<lb/> "och gehaßt, aber nicht mehr gefürchtet. Eine Zeitung gebrauchte einmal den<lb/> nicht recht passenden Ausdruck, den Grafen Schwerin als den Chef der Reac¬<lb/> tion zu bezeichnen: das ist er nicht, das kann er nie werden, weil er ein edler,<lb/> wahrhaft ehrenwerther Mann ist; das könnte er nie werden, auch wenn er<lb/> das nicht wäre. Der Liberalismus ist geneigt zu vergessen, die Reaction<lb/> vergißt nicht. Als ihre vorübergehenden Werkzeuge mag sie ihre ehemaligen<lb/> Gegner benutzen; ihnen dienen wird sie nie und nimmermehr. Sie dnrch<lb/> Nachsicht und zuvorkommendes Wesen gewinnen zu wollen, ist ein eitles Un¬<lb/> ternehmen; die Folge kann nur sein, daß man zuletzt beiden Parteien sich<lb/> gleichmäßig entfremdet. Ein Organ des Ministeriums äußerte sich vor einiger<lb/> Zeit in Bezug auf die allgemeinen Klagen über die schlechte Stellung Preu¬<lb/> ßens in Deutschland, es sei doch jetzt nicht schlechter als unter Manteuffel!<lb/> So weit wären wir also bereits gekommen! Und es ist zudem nur halbwahr.</p><lb/> <p xml:id="ID_1366"> Freilich ist vieles besser geworden in unserm öffentlichen Leben, in unserer<lb/> Stellung zu Deutschland und zu Europa.</p><lb/> <p xml:id="ID_1367" next="#ID_1368"> Es ist besser geworden in unserer auswärtigen Politik. Zur Zeit des<lb/> vorigen Ministeriums konnte jede schlechte Regung in den deutschen Staaten<lb/> mit Sicherheit darauf rechnen, bei der preußischen Negierung, wo nicht lauten<lb/> Beifall und offene Mitwirkung, doch wenigstens geheime schmunzelnde Sym¬<lb/> pathie zu finden; sie konnte ferner darauf rechnen, daß Preußen in jedem<lb/> rüsten Conflict sich schwach und nachgiebig zeigen würde. Das hat aufge¬<lb/> hört. Die schlechten Neigungen finden in Berlin keine Sympathie mehr, und<lb/> jede gute Neigung, die sich innerhalb gewisser mehr oder minder eng vorge¬<lb/> steckter Grenzen hält, kann in Berlin, wenn nicht auf lauten Beifall und</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 54*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0447]
wirklich noch zu glauben. Möchte der allgemeine Schrei, der sich über ihr
Verfahren durch die ganze Presse erhebt, sie endlich eines andern überführen.
In der moralischen Welt wie in der physischen hat alles was geschieht
seine Folgen: seine Folgen, die man durch bloße Nichtbeachtung nicht heilt.
Die Folgen des Regiments von 1850—58 beschränkten sich nicht auf die Mi-
nisterhotels; sie haben sich bis auf die untersten Schichten des Volksleben's
ausgedehnt. Das preußische Becnntenthum ist nicht mehr, was es 1847 war;
die Angeberei und die Augendienern hat ihr Werk gethan, ja die Stände
haben eine ganz andere Richtung genommen, der Adel und das Bürgerthum
sind ins Parteileben eingeführt; die sogenannte politische Gesinnung hat den
Begriff der Amtsehre überwuchert, selbst das Militär ist durch fortdauernde
Bearbeitung verleitet, sich als den verpflichteten Träger einer politischen Partei
zu betrachten. Die Atmosphäre, in der bei weitem der größere Theil derer,
die am politischen Leben praktischen Antheil nehmen, leben, athmen, denken
und empfinden, ist die Atmosphäre der Kreuzzeitung. In dieser Atmosphäre
steht das Ministerium bis jetzt völlig isolirt; zuerst gehaßt und gefürchtet, jetzt
"och gehaßt, aber nicht mehr gefürchtet. Eine Zeitung gebrauchte einmal den
nicht recht passenden Ausdruck, den Grafen Schwerin als den Chef der Reac¬
tion zu bezeichnen: das ist er nicht, das kann er nie werden, weil er ein edler,
wahrhaft ehrenwerther Mann ist; das könnte er nie werden, auch wenn er
das nicht wäre. Der Liberalismus ist geneigt zu vergessen, die Reaction
vergißt nicht. Als ihre vorübergehenden Werkzeuge mag sie ihre ehemaligen
Gegner benutzen; ihnen dienen wird sie nie und nimmermehr. Sie dnrch
Nachsicht und zuvorkommendes Wesen gewinnen zu wollen, ist ein eitles Un¬
ternehmen; die Folge kann nur sein, daß man zuletzt beiden Parteien sich
gleichmäßig entfremdet. Ein Organ des Ministeriums äußerte sich vor einiger
Zeit in Bezug auf die allgemeinen Klagen über die schlechte Stellung Preu¬
ßens in Deutschland, es sei doch jetzt nicht schlechter als unter Manteuffel!
So weit wären wir also bereits gekommen! Und es ist zudem nur halbwahr.
Freilich ist vieles besser geworden in unserm öffentlichen Leben, in unserer
Stellung zu Deutschland und zu Europa.
Es ist besser geworden in unserer auswärtigen Politik. Zur Zeit des
vorigen Ministeriums konnte jede schlechte Regung in den deutschen Staaten
mit Sicherheit darauf rechnen, bei der preußischen Negierung, wo nicht lauten
Beifall und offene Mitwirkung, doch wenigstens geheime schmunzelnde Sym¬
pathie zu finden; sie konnte ferner darauf rechnen, daß Preußen in jedem
rüsten Conflict sich schwach und nachgiebig zeigen würde. Das hat aufge¬
hört. Die schlechten Neigungen finden in Berlin keine Sympathie mehr, und
jede gute Neigung, die sich innerhalb gewisser mehr oder minder eng vorge¬
steckter Grenzen hält, kann in Berlin, wenn nicht auf lauten Beifall und
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