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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Wir haben hiermit die hauptsächlichsten Beschwerden der Christen in der
Türkei aufgeführt. Mögen Fürst Gortschntoffs Beweggründe zu seinem An¬
trag im letzten Frühling gewesen sein, welche sie wollen, die Thatsachen, auf
welche er hinwies, waren wahlbegründet. Man fühlte das in Konstantinopel.
Es folgte ein Ministerwechscl, und Kibrisli Pascha -- einer der wenigen ehr¬
lichen Staatsmänner der Pforte -- erhielt wieder den Posten des Grvßwessirs.
von dem ihn die üble Laune seines Gebieters ein Jahr vorher verwiesen,
weil Kibrisli zu Ersparnissen im kaiserlichen Haushalt gerathen hatte. Der
neue Großwessir wurde sofort mit einer Mission zur Vereisung der europäischen
Provinzen und zur Untersuchung der Mißbräuche betraut, über welche Rußland
geklagt hatte. Der Antrag, ihn von Delegaten der fremden Gesandtschaften
begleiten zu lassen, wurde von der Pforte nicht angenommen. Kibrisli ist,
wie bemerkt, ein rechtschaffner Charakter. Er hat verschiedene Beamte ab¬
gesetzt, manchen Willküract rückgängig gemacht. Er ist jetzt zurückgekehrt, und
sein Bericht wird vermuthlich dasselbe enthalten, was wir im Vorigen zu
schildern versuchten. Die Version jedoch, in welcher derselbe in die Oeffentlich-
' keit gelangen wird, dürfte beträchtlich günstiger lauten. Sehr viele Christen
werden aus Furcht, nach der Abreise des Wessirs von den Beamten gestraft
oder von ihren mohammedanischen Nachbarn gemißhandelt zu werden, mit
ihrem Zeugniß und ihren Klagen zurückgehalten haben. Man wird das be¬
nutzen, wird auf die vorgenommenen Absetzungen hinweisen und den Zustand
der Provinzen für vollkommen zufriedenstellend erklären. Rußland wird dadurch
nicht getäuscht werden, es wird -- da es trotz des üblen Standes seiner
Finanzen und der jetzigen Schwäche seines Heeres für Demonstrationen gegen
die Pforte stets Geld und Soldaten haben wird -- über kurz oder lang die
Gelegenheit ergreifen, das Beispiel der Franzosen im Libanon in Rumelien
nachzuahmen.

Wir glauben aber zugleich, daß Nußland sehr wohl davon unterrichtet
ist, wie weit es auf die Griechen rechnen kann. Nichts kann unrichtiger sein,
als die Meinung, daß alle Angehörigen der morgenländischen Kirche in Betreff
der orientalischen Frage derselben Ansicht huldigen und den gleichen Zielen
zustreben. Es ist wahr, der gemeinsame Glaube zeigt Russen und Griechen
hier einen gemeinsamen Feind, aber über die zu verhoffende Beute ist man
durchaus verschiedener Meinung, und man würde noch weiter auseinnnder-
gehen, wenn nicht Rußland von allen Großmächten am meisten bestrebt ge¬
wesen wäre, sich die Hellenen zu Dank zu verpflichten. Die Masse des nie¬
dern Volkes mag dasür dankbar sein, die Gebildeten wissen, daß der Gönner
zu seinen Gnnstbezeigungen nicht durch Sympathien, sondern durch sein In¬
teresse bewogen wurde, und daß mit einer Ausbreitung der russischen Herrschaft
.bis an das ägäische und adriatische Meer das Ende der griechischen Freiheit


Wir haben hiermit die hauptsächlichsten Beschwerden der Christen in der
Türkei aufgeführt. Mögen Fürst Gortschntoffs Beweggründe zu seinem An¬
trag im letzten Frühling gewesen sein, welche sie wollen, die Thatsachen, auf
welche er hinwies, waren wahlbegründet. Man fühlte das in Konstantinopel.
Es folgte ein Ministerwechscl, und Kibrisli Pascha — einer der wenigen ehr¬
lichen Staatsmänner der Pforte — erhielt wieder den Posten des Grvßwessirs.
von dem ihn die üble Laune seines Gebieters ein Jahr vorher verwiesen,
weil Kibrisli zu Ersparnissen im kaiserlichen Haushalt gerathen hatte. Der
neue Großwessir wurde sofort mit einer Mission zur Vereisung der europäischen
Provinzen und zur Untersuchung der Mißbräuche betraut, über welche Rußland
geklagt hatte. Der Antrag, ihn von Delegaten der fremden Gesandtschaften
begleiten zu lassen, wurde von der Pforte nicht angenommen. Kibrisli ist,
wie bemerkt, ein rechtschaffner Charakter. Er hat verschiedene Beamte ab¬
gesetzt, manchen Willküract rückgängig gemacht. Er ist jetzt zurückgekehrt, und
sein Bericht wird vermuthlich dasselbe enthalten, was wir im Vorigen zu
schildern versuchten. Die Version jedoch, in welcher derselbe in die Oeffentlich-
' keit gelangen wird, dürfte beträchtlich günstiger lauten. Sehr viele Christen
werden aus Furcht, nach der Abreise des Wessirs von den Beamten gestraft
oder von ihren mohammedanischen Nachbarn gemißhandelt zu werden, mit
ihrem Zeugniß und ihren Klagen zurückgehalten haben. Man wird das be¬
nutzen, wird auf die vorgenommenen Absetzungen hinweisen und den Zustand
der Provinzen für vollkommen zufriedenstellend erklären. Rußland wird dadurch
nicht getäuscht werden, es wird — da es trotz des üblen Standes seiner
Finanzen und der jetzigen Schwäche seines Heeres für Demonstrationen gegen
die Pforte stets Geld und Soldaten haben wird — über kurz oder lang die
Gelegenheit ergreifen, das Beispiel der Franzosen im Libanon in Rumelien
nachzuahmen.

Wir glauben aber zugleich, daß Nußland sehr wohl davon unterrichtet
ist, wie weit es auf die Griechen rechnen kann. Nichts kann unrichtiger sein,
als die Meinung, daß alle Angehörigen der morgenländischen Kirche in Betreff
der orientalischen Frage derselben Ansicht huldigen und den gleichen Zielen
zustreben. Es ist wahr, der gemeinsame Glaube zeigt Russen und Griechen
hier einen gemeinsamen Feind, aber über die zu verhoffende Beute ist man
durchaus verschiedener Meinung, und man würde noch weiter auseinnnder-
gehen, wenn nicht Rußland von allen Großmächten am meisten bestrebt ge¬
wesen wäre, sich die Hellenen zu Dank zu verpflichten. Die Masse des nie¬
dern Volkes mag dasür dankbar sein, die Gebildeten wissen, daß der Gönner
zu seinen Gnnstbezeigungen nicht durch Sympathien, sondern durch sein In¬
teresse bewogen wurde, und daß mit einer Ausbreitung der russischen Herrschaft
.bis an das ägäische und adriatische Meer das Ende der griechischen Freiheit


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[0302] Wir haben hiermit die hauptsächlichsten Beschwerden der Christen in der Türkei aufgeführt. Mögen Fürst Gortschntoffs Beweggründe zu seinem An¬ trag im letzten Frühling gewesen sein, welche sie wollen, die Thatsachen, auf welche er hinwies, waren wahlbegründet. Man fühlte das in Konstantinopel. Es folgte ein Ministerwechscl, und Kibrisli Pascha — einer der wenigen ehr¬ lichen Staatsmänner der Pforte — erhielt wieder den Posten des Grvßwessirs. von dem ihn die üble Laune seines Gebieters ein Jahr vorher verwiesen, weil Kibrisli zu Ersparnissen im kaiserlichen Haushalt gerathen hatte. Der neue Großwessir wurde sofort mit einer Mission zur Vereisung der europäischen Provinzen und zur Untersuchung der Mißbräuche betraut, über welche Rußland geklagt hatte. Der Antrag, ihn von Delegaten der fremden Gesandtschaften begleiten zu lassen, wurde von der Pforte nicht angenommen. Kibrisli ist, wie bemerkt, ein rechtschaffner Charakter. Er hat verschiedene Beamte ab¬ gesetzt, manchen Willküract rückgängig gemacht. Er ist jetzt zurückgekehrt, und sein Bericht wird vermuthlich dasselbe enthalten, was wir im Vorigen zu schildern versuchten. Die Version jedoch, in welcher derselbe in die Oeffentlich- ' keit gelangen wird, dürfte beträchtlich günstiger lauten. Sehr viele Christen werden aus Furcht, nach der Abreise des Wessirs von den Beamten gestraft oder von ihren mohammedanischen Nachbarn gemißhandelt zu werden, mit ihrem Zeugniß und ihren Klagen zurückgehalten haben. Man wird das be¬ nutzen, wird auf die vorgenommenen Absetzungen hinweisen und den Zustand der Provinzen für vollkommen zufriedenstellend erklären. Rußland wird dadurch nicht getäuscht werden, es wird — da es trotz des üblen Standes seiner Finanzen und der jetzigen Schwäche seines Heeres für Demonstrationen gegen die Pforte stets Geld und Soldaten haben wird — über kurz oder lang die Gelegenheit ergreifen, das Beispiel der Franzosen im Libanon in Rumelien nachzuahmen. Wir glauben aber zugleich, daß Nußland sehr wohl davon unterrichtet ist, wie weit es auf die Griechen rechnen kann. Nichts kann unrichtiger sein, als die Meinung, daß alle Angehörigen der morgenländischen Kirche in Betreff der orientalischen Frage derselben Ansicht huldigen und den gleichen Zielen zustreben. Es ist wahr, der gemeinsame Glaube zeigt Russen und Griechen hier einen gemeinsamen Feind, aber über die zu verhoffende Beute ist man durchaus verschiedener Meinung, und man würde noch weiter auseinnnder- gehen, wenn nicht Rußland von allen Großmächten am meisten bestrebt ge¬ wesen wäre, sich die Hellenen zu Dank zu verpflichten. Die Masse des nie¬ dern Volkes mag dasür dankbar sein, die Gebildeten wissen, daß der Gönner zu seinen Gnnstbezeigungen nicht durch Sympathien, sondern durch sein In¬ teresse bewogen wurde, und daß mit einer Ausbreitung der russischen Herrschaft .bis an das ägäische und adriatische Meer das Ende der griechischen Freiheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/302>, abgerufen am 15.01.2025.