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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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nahe gerückt wäre und der nationale Gedanke, der sich seit Gründung des
Königreichs Hellas immer mehr Bekenner und Förderer warb, unter der Wucht
des Slaventhums sehr bald erstickt werden würde. Die Griechen sind zu
gute Kaufleute, um ihre Freundschaft nicht dahin zu vergeben, wo sie ihnen
bessere Zinsen trägt als in Sanct Petersburg. England hat sie bisher
verschmäht, indem es kurzsichtig nur an den regen Handelsgeist und den küh¬
nen Seemannscharakter dachte, der den britischen Interessen im Mittelmeer
Eintrag thun konnte. Frankreich wird, glauben wir, besser zu rechnen verstehen.

Das jetzige Königreich Hellas ist eine Schöpfung, die als Halbheit nicht
leben und nicht sterben kann. Grade die am günstigsten gelegenen und die
reichsten Inseln, die fruchtbarsten Striche der altgriechischen Welt blieben in
den Händen der Türken, viele Hunderttausende des Volkes sahen sich vom
Anschluß an ihre Brüder abgehalten. Die Sehnsucht, sich dennoch mit ihnen
zu vereinigen, ist allenthalben groß und wird durch die Zöglinge der Hoch¬
schule in Athen, die von allen hellenischen Niederlassungen beschickt wird, von
Jahr zu Jahr mehr angeregt. Die Bewohner der jonischen Inseln können
ihre fast unabhängige nationale Existenz unter britischer Schutzherrlichkeit ge¬
trost mit der griechischen Regierungsweise vergleichen, und doch werden sich
unter ihnen wenige finden, die es nicht vorziehen würden, sich dem hellenischen
Königreich einverleibt zu sehen. Wie muß dann erst die Stimmung der Grie¬
chen sein, die noch unter dem Joch der Türken seufzen! Sollte in Folge von
Uebergriffen des türkischen Fanatismus eine insurrectionelle Bewegung in
Thessalien oder sonst in einer Gegend des türkischen Reiches, wo die Griechen
dicht angesiedelt sind, ausörechen, so wird die Regierung in Athen durch den
Druck der öffentlichen Meinung genöthigt werden, sich einzumischen. Sie wird
dann dem Drängen der letzteren gegenüber so ohnmächtig sein, wie Sardinien
war, die Abfahrt der Freiwilligen nach Sicilien zu hindern. Die Westmächte
haben -- freilich, wie bemerkt, aus sehr verschiedenen Motiven -- den Fortschritt
der unitarischen Partei in Italien ermuthigt; können !sie weniger thun im
Osten, wo sicher noch weit mehr Grund zur Vertreibung unvolksrhümlicher
Regierungen vorhanden ist?

Rußland, wir wiederholen es. ist sich völlig klar über die Stellung,
welche die Griechen seinen Prätensionen gegenüber einnehmen. Türkische Unter¬
drückung veranlaßte sie, den Schutz des Czaren nachzusuchen, aber niemals
herrschte zwischen beiden ein herzliches Einverständnis), am wenigsten in der
letzten Zeit. Was könnte auch der russische Despotismus gemein haben mit
der Liebe zu persönlicher Freiheit, die dem griechischen Volke von Alters her
eingepflanzt ist und sich in den Jahren seit dem Unabhängigkeitskriege mehr
und mehr entwickelt hat? Wie vertrüge sich eine Regierungsform, die nicht
einmal einen den Ansichten der Oberbehörde entgegengesetzten Meinnngsaus-


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nahe gerückt wäre und der nationale Gedanke, der sich seit Gründung des
Königreichs Hellas immer mehr Bekenner und Förderer warb, unter der Wucht
des Slaventhums sehr bald erstickt werden würde. Die Griechen sind zu
gute Kaufleute, um ihre Freundschaft nicht dahin zu vergeben, wo sie ihnen
bessere Zinsen trägt als in Sanct Petersburg. England hat sie bisher
verschmäht, indem es kurzsichtig nur an den regen Handelsgeist und den küh¬
nen Seemannscharakter dachte, der den britischen Interessen im Mittelmeer
Eintrag thun konnte. Frankreich wird, glauben wir, besser zu rechnen verstehen.

Das jetzige Königreich Hellas ist eine Schöpfung, die als Halbheit nicht
leben und nicht sterben kann. Grade die am günstigsten gelegenen und die
reichsten Inseln, die fruchtbarsten Striche der altgriechischen Welt blieben in
den Händen der Türken, viele Hunderttausende des Volkes sahen sich vom
Anschluß an ihre Brüder abgehalten. Die Sehnsucht, sich dennoch mit ihnen
zu vereinigen, ist allenthalben groß und wird durch die Zöglinge der Hoch¬
schule in Athen, die von allen hellenischen Niederlassungen beschickt wird, von
Jahr zu Jahr mehr angeregt. Die Bewohner der jonischen Inseln können
ihre fast unabhängige nationale Existenz unter britischer Schutzherrlichkeit ge¬
trost mit der griechischen Regierungsweise vergleichen, und doch werden sich
unter ihnen wenige finden, die es nicht vorziehen würden, sich dem hellenischen
Königreich einverleibt zu sehen. Wie muß dann erst die Stimmung der Grie¬
chen sein, die noch unter dem Joch der Türken seufzen! Sollte in Folge von
Uebergriffen des türkischen Fanatismus eine insurrectionelle Bewegung in
Thessalien oder sonst in einer Gegend des türkischen Reiches, wo die Griechen
dicht angesiedelt sind, ausörechen, so wird die Regierung in Athen durch den
Druck der öffentlichen Meinung genöthigt werden, sich einzumischen. Sie wird
dann dem Drängen der letzteren gegenüber so ohnmächtig sein, wie Sardinien
war, die Abfahrt der Freiwilligen nach Sicilien zu hindern. Die Westmächte
haben — freilich, wie bemerkt, aus sehr verschiedenen Motiven — den Fortschritt
der unitarischen Partei in Italien ermuthigt; können !sie weniger thun im
Osten, wo sicher noch weit mehr Grund zur Vertreibung unvolksrhümlicher
Regierungen vorhanden ist?

Rußland, wir wiederholen es. ist sich völlig klar über die Stellung,
welche die Griechen seinen Prätensionen gegenüber einnehmen. Türkische Unter¬
drückung veranlaßte sie, den Schutz des Czaren nachzusuchen, aber niemals
herrschte zwischen beiden ein herzliches Einverständnis), am wenigsten in der
letzten Zeit. Was könnte auch der russische Despotismus gemein haben mit
der Liebe zu persönlicher Freiheit, die dem griechischen Volke von Alters her
eingepflanzt ist und sich in den Jahren seit dem Unabhängigkeitskriege mehr
und mehr entwickelt hat? Wie vertrüge sich eine Regierungsform, die nicht
einmal einen den Ansichten der Oberbehörde entgegengesetzten Meinnngsaus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/303>, abgerufen am 15.01.2025.