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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Regierungsposten besonders zu berücksichtigen. In Bulgarien beschwichtigt
man die Einsprüche der Eltern von christlichen Mädchen, die durch Entführung
für den Islam gewonnen werden, dadurch, daß man ihnen bei der Be¬
steuerung gleiche Rechte mit den Moslemin einräumt. In Monastir werden
Türken, welche Christinnen entführen und zur Annahme des mohammedanischen
Glaubens überreden, von der Militärpflicht befreit.

Während des Krimkriegs ließ Sales Paschas, der Gouverneur von Varna,
die Tochter eines vornehmen Christen in Tultscha in seinen Harem schleppen,
und als der Vater des Mädchens dessen Rückgabe verlangte, wurde er ins
Gefängniß geworfen und sein Vermögen eingezogen. Die Sache machte Auf¬
sehen, die englischen Behörden mischten sich ein, aber das nächste Ergebniß
war, daß nach einigen Tagen die Leiche der Verschwundenen aufgefunden wurde.
Sales Pascha wurde nun abgesetzt und zur Untersuchung nach Konstantinopel
abgeführt, der Vater seiner Haft entlassen. Sein Vermögen erhielt er nicht
wieder, und der Pascha lebt noch jetzt ruhig in der Hauptstadt, ohne auch nur
zum Schein einer Untersuchung unterworfen worden zu sein.

Aehnliche Fälle kommen im Innern Rumeliens oft vor, und die Behörden
benehmen sich dabei auf die unverantwortlichste Weise. Das Gesetz will, daß,
wenn ein solcher Fall zur Anzeige gelangt, das entführte Mädchen bis zur
Entscheidung der Sache unter die Obhut des Oberhaupts der Secte gestellt
werde, zu welcher die Eltern gehören. Dies geschieht aber nur, wo europäische
Konsuln über die Befolgung des Gesetzes wachen. Im Innern bringt man
das Mädchen vor das Medschlis, wo sie über ihre Religion befragt wird.
Sagt sie: Mohammedanerin, so ist der Proceß sofort geschlossen. Antwortet
sie: Christin, so ist das Ergebniß dasselbe. Das Medschlis bezieht sich auf
den Hattihumayum von 1KK6, nach welchem das Zeugniß von Christen nur
in commerziellen, polizeilichen und criminellen Fällen anzunehmen ist, erklärt
den vorliegenden Fall sür einen blos civilen und lehnt in Folge dessen die
Annahme des Zeugnisses des Mädchens oder ihrer Verwandten als unstatthaft
ab, womit die Kläger sich zufrieden zu geben haben, wenn es ihnen nicht
etwa gelingt, einen Türken zum Zeugniß für sie zu vermögen. Da sich diese
Nothwendigkeit moslemischer Zeugen auf alle Fälle des Civilrechts erstreckt,
so hat sich in der Türkei eine förmliche Zunft falscher Zeugen entwickelt, die
für ein Stück Geld jeden beliebigen Meineid zu schwören bereit ist und aus
diesem schmachvollen Geschüft ihren hauptsächlichsten Lebenserwcrb zieht. Die
Christen sind durch diesen Mißbrauch in ihrem Eigenthum etwas sicherer ge¬
stellt, als nach dem Gesetz; aber die falschen Zeugen sind auch gegen sie zu
haben, und da die Medschlis mündliche Zeugnisse stets dem Beweis durch
Documente vorziehen, so geschieht es häufig, daß Christen von reichen Mosle¬
min aus dem Besitz ihrer Grundstücke verdrängt werden.


Grenzboten IV. 1S60, 37

Regierungsposten besonders zu berücksichtigen. In Bulgarien beschwichtigt
man die Einsprüche der Eltern von christlichen Mädchen, die durch Entführung
für den Islam gewonnen werden, dadurch, daß man ihnen bei der Be¬
steuerung gleiche Rechte mit den Moslemin einräumt. In Monastir werden
Türken, welche Christinnen entführen und zur Annahme des mohammedanischen
Glaubens überreden, von der Militärpflicht befreit.

Während des Krimkriegs ließ Sales Paschas, der Gouverneur von Varna,
die Tochter eines vornehmen Christen in Tultscha in seinen Harem schleppen,
und als der Vater des Mädchens dessen Rückgabe verlangte, wurde er ins
Gefängniß geworfen und sein Vermögen eingezogen. Die Sache machte Auf¬
sehen, die englischen Behörden mischten sich ein, aber das nächste Ergebniß
war, daß nach einigen Tagen die Leiche der Verschwundenen aufgefunden wurde.
Sales Pascha wurde nun abgesetzt und zur Untersuchung nach Konstantinopel
abgeführt, der Vater seiner Haft entlassen. Sein Vermögen erhielt er nicht
wieder, und der Pascha lebt noch jetzt ruhig in der Hauptstadt, ohne auch nur
zum Schein einer Untersuchung unterworfen worden zu sein.

Aehnliche Fälle kommen im Innern Rumeliens oft vor, und die Behörden
benehmen sich dabei auf die unverantwortlichste Weise. Das Gesetz will, daß,
wenn ein solcher Fall zur Anzeige gelangt, das entführte Mädchen bis zur
Entscheidung der Sache unter die Obhut des Oberhaupts der Secte gestellt
werde, zu welcher die Eltern gehören. Dies geschieht aber nur, wo europäische
Konsuln über die Befolgung des Gesetzes wachen. Im Innern bringt man
das Mädchen vor das Medschlis, wo sie über ihre Religion befragt wird.
Sagt sie: Mohammedanerin, so ist der Proceß sofort geschlossen. Antwortet
sie: Christin, so ist das Ergebniß dasselbe. Das Medschlis bezieht sich auf
den Hattihumayum von 1KK6, nach welchem das Zeugniß von Christen nur
in commerziellen, polizeilichen und criminellen Fällen anzunehmen ist, erklärt
den vorliegenden Fall sür einen blos civilen und lehnt in Folge dessen die
Annahme des Zeugnisses des Mädchens oder ihrer Verwandten als unstatthaft
ab, womit die Kläger sich zufrieden zu geben haben, wenn es ihnen nicht
etwa gelingt, einen Türken zum Zeugniß für sie zu vermögen. Da sich diese
Nothwendigkeit moslemischer Zeugen auf alle Fälle des Civilrechts erstreckt,
so hat sich in der Türkei eine förmliche Zunft falscher Zeugen entwickelt, die
für ein Stück Geld jeden beliebigen Meineid zu schwören bereit ist und aus
diesem schmachvollen Geschüft ihren hauptsächlichsten Lebenserwcrb zieht. Die
Christen sind durch diesen Mißbrauch in ihrem Eigenthum etwas sicherer ge¬
stellt, als nach dem Gesetz; aber die falschen Zeugen sind auch gegen sie zu
haben, und da die Medschlis mündliche Zeugnisse stets dem Beweis durch
Documente vorziehen, so geschieht es häufig, daß Christen von reichen Mosle¬
min aus dem Besitz ihrer Grundstücke verdrängt werden.


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[0301] Regierungsposten besonders zu berücksichtigen. In Bulgarien beschwichtigt man die Einsprüche der Eltern von christlichen Mädchen, die durch Entführung für den Islam gewonnen werden, dadurch, daß man ihnen bei der Be¬ steuerung gleiche Rechte mit den Moslemin einräumt. In Monastir werden Türken, welche Christinnen entführen und zur Annahme des mohammedanischen Glaubens überreden, von der Militärpflicht befreit. Während des Krimkriegs ließ Sales Paschas, der Gouverneur von Varna, die Tochter eines vornehmen Christen in Tultscha in seinen Harem schleppen, und als der Vater des Mädchens dessen Rückgabe verlangte, wurde er ins Gefängniß geworfen und sein Vermögen eingezogen. Die Sache machte Auf¬ sehen, die englischen Behörden mischten sich ein, aber das nächste Ergebniß war, daß nach einigen Tagen die Leiche der Verschwundenen aufgefunden wurde. Sales Pascha wurde nun abgesetzt und zur Untersuchung nach Konstantinopel abgeführt, der Vater seiner Haft entlassen. Sein Vermögen erhielt er nicht wieder, und der Pascha lebt noch jetzt ruhig in der Hauptstadt, ohne auch nur zum Schein einer Untersuchung unterworfen worden zu sein. Aehnliche Fälle kommen im Innern Rumeliens oft vor, und die Behörden benehmen sich dabei auf die unverantwortlichste Weise. Das Gesetz will, daß, wenn ein solcher Fall zur Anzeige gelangt, das entführte Mädchen bis zur Entscheidung der Sache unter die Obhut des Oberhaupts der Secte gestellt werde, zu welcher die Eltern gehören. Dies geschieht aber nur, wo europäische Konsuln über die Befolgung des Gesetzes wachen. Im Innern bringt man das Mädchen vor das Medschlis, wo sie über ihre Religion befragt wird. Sagt sie: Mohammedanerin, so ist der Proceß sofort geschlossen. Antwortet sie: Christin, so ist das Ergebniß dasselbe. Das Medschlis bezieht sich auf den Hattihumayum von 1KK6, nach welchem das Zeugniß von Christen nur in commerziellen, polizeilichen und criminellen Fällen anzunehmen ist, erklärt den vorliegenden Fall sür einen blos civilen und lehnt in Folge dessen die Annahme des Zeugnisses des Mädchens oder ihrer Verwandten als unstatthaft ab, womit die Kläger sich zufrieden zu geben haben, wenn es ihnen nicht etwa gelingt, einen Türken zum Zeugniß für sie zu vermögen. Da sich diese Nothwendigkeit moslemischer Zeugen auf alle Fälle des Civilrechts erstreckt, so hat sich in der Türkei eine förmliche Zunft falscher Zeugen entwickelt, die für ein Stück Geld jeden beliebigen Meineid zu schwören bereit ist und aus diesem schmachvollen Geschüft ihren hauptsächlichsten Lebenserwcrb zieht. Die Christen sind durch diesen Mißbrauch in ihrem Eigenthum etwas sicherer ge¬ stellt, als nach dem Gesetz; aber die falschen Zeugen sind auch gegen sie zu haben, und da die Medschlis mündliche Zeugnisse stets dem Beweis durch Documente vorziehen, so geschieht es häufig, daß Christen von reichen Mosle¬ min aus dem Besitz ihrer Grundstücke verdrängt werden. Grenzboten IV. 1S60, 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/301>, abgerufen am 16.01.2025.