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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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zu blamiren. In einem Staate, der groß ist oder sein will, bilden sich aus
dem Geiste seiner Institutionen, aus dem Nationalgefülile, aus traditionellen
Auffassungen der Bedingungen Sumer Machtstellung gewisse Principien heraus,
die zwar veränderten Verhältnissen in der Anwendung Rechnung tragen, mit
denen aber nicht zu transigiren ist. Einen solchen politischen Katechismus
trägt jeder Gebildete, geschweige denn jeder Diplomat, in seiner Brust, und
er kann hiernach jede darauf bezügliche Frage ohne Instruction beantworten.
Würde z. B. in einem Wiener Salon ein Mitglied der britischen Legation
gefragt worden sein, ob die Nachricht richtig sei, daß England sein intimes
Verhältniß zu Frankreich benutzt habe, um sich zur Bekämpfung eines Auf-
standes in Indien ein französisches Hilfscorps zu erbitten, so würde der Brite,
ohne vorerst in London anzufragen, sofort erwidern können: "nein, die Nach¬
richt ist falsch, denn was sie enthält, ist unmöglich". Eben so würde ein Fran¬
zose auf die Frage geantwortet haben, ob Frankreich seinen Schützling Me-
hemed Ali im Stiche lassen und einem von andern Mächten ohne seine
Mitwirkung zu dessen Ungunsten getroffenen Arrangement sich fügen würde?
Der Franzose würde Unrecht behalten haben, aber die Politik, welche ihn
Lügen strafte, war der erste Schritt zum Sturze Louis Philipps. Ein solches
politisches Credo, welches unter allen Umständen maßgebend ist, leistet der
Diplomatie treffliche Dienste, aber es ist in manchen Staaten nicht zu finden,
oder doch nur in schwachen, undeutlichen Spuren. -- Dann dient zuweilen
als Ersatz ein Programm, welches der Kastengeist aufgestellt und angenommen
hat, falls die leitenden Persönlichkeiten lind ihre Organe im auswärtigen
Amte aus einer Kaste oder einer geschlossenen Partei genommen werden. Je¬
der von ihnen kennt genau die in den höchsten Kreisen wie unter den
Ministern und andern einflußreichen Personen herrschende Auffassung der po¬
litischen Verhältnisse und die Richtung des ihre Behandlung leitenden Wil¬
lens. Jeder theilt selbst diese Auffassung und Willensrichtung, und wenn
dann auch die Politik den wirtlichen nationalen Interessen nicht entsprechen
sollte, so ist es doch eine Politik und die Diplomatie ist ihr brauchbares Werk¬
zeug. Der Zweig des öffentlichen Dienstes, welcher die Beziehungen zu den
auswärtige" Staaten regelt, bedarf mehr als jeder andre Zweig des Civil¬
dienstes der strengen Unterordnung der Glieder unter das Haupt, der Ueber¬
einstimmung in allen Aeußerungen ihrer Thätigkeit. Ergeben sich Unzuträglick-
keiten unter den Organen der innern Verwaltung, so werden sie bemerkt, von
dem Publikum überwacht, und man kann die schmutzige Wäsche in der Fami¬
lie waschen. Spaltungen unter den Organen des auswärtigen Dienstes un¬
tergraben das Ansehen der Negierung bei allen Cabineten, schwächen sie an
den empfindlichsten Stellen, und können in kritischen Momenten ihre Existenz
in Frage stellen. Es ist daher auch eine allgemeine Norm, ohne Unterschied


Grenzboten IV. 1860. 32

zu blamiren. In einem Staate, der groß ist oder sein will, bilden sich aus
dem Geiste seiner Institutionen, aus dem Nationalgefülile, aus traditionellen
Auffassungen der Bedingungen Sumer Machtstellung gewisse Principien heraus,
die zwar veränderten Verhältnissen in der Anwendung Rechnung tragen, mit
denen aber nicht zu transigiren ist. Einen solchen politischen Katechismus
trägt jeder Gebildete, geschweige denn jeder Diplomat, in seiner Brust, und
er kann hiernach jede darauf bezügliche Frage ohne Instruction beantworten.
Würde z. B. in einem Wiener Salon ein Mitglied der britischen Legation
gefragt worden sein, ob die Nachricht richtig sei, daß England sein intimes
Verhältniß zu Frankreich benutzt habe, um sich zur Bekämpfung eines Auf-
standes in Indien ein französisches Hilfscorps zu erbitten, so würde der Brite,
ohne vorerst in London anzufragen, sofort erwidern können: „nein, die Nach¬
richt ist falsch, denn was sie enthält, ist unmöglich". Eben so würde ein Fran¬
zose auf die Frage geantwortet haben, ob Frankreich seinen Schützling Me-
hemed Ali im Stiche lassen und einem von andern Mächten ohne seine
Mitwirkung zu dessen Ungunsten getroffenen Arrangement sich fügen würde?
Der Franzose würde Unrecht behalten haben, aber die Politik, welche ihn
Lügen strafte, war der erste Schritt zum Sturze Louis Philipps. Ein solches
politisches Credo, welches unter allen Umständen maßgebend ist, leistet der
Diplomatie treffliche Dienste, aber es ist in manchen Staaten nicht zu finden,
oder doch nur in schwachen, undeutlichen Spuren. — Dann dient zuweilen
als Ersatz ein Programm, welches der Kastengeist aufgestellt und angenommen
hat, falls die leitenden Persönlichkeiten lind ihre Organe im auswärtigen
Amte aus einer Kaste oder einer geschlossenen Partei genommen werden. Je¬
der von ihnen kennt genau die in den höchsten Kreisen wie unter den
Ministern und andern einflußreichen Personen herrschende Auffassung der po¬
litischen Verhältnisse und die Richtung des ihre Behandlung leitenden Wil¬
lens. Jeder theilt selbst diese Auffassung und Willensrichtung, und wenn
dann auch die Politik den wirtlichen nationalen Interessen nicht entsprechen
sollte, so ist es doch eine Politik und die Diplomatie ist ihr brauchbares Werk¬
zeug. Der Zweig des öffentlichen Dienstes, welcher die Beziehungen zu den
auswärtige» Staaten regelt, bedarf mehr als jeder andre Zweig des Civil¬
dienstes der strengen Unterordnung der Glieder unter das Haupt, der Ueber¬
einstimmung in allen Aeußerungen ihrer Thätigkeit. Ergeben sich Unzuträglick-
keiten unter den Organen der innern Verwaltung, so werden sie bemerkt, von
dem Publikum überwacht, und man kann die schmutzige Wäsche in der Fami¬
lie waschen. Spaltungen unter den Organen des auswärtigen Dienstes un¬
tergraben das Ansehen der Negierung bei allen Cabineten, schwächen sie an
den empfindlichsten Stellen, und können in kritischen Momenten ihre Existenz
in Frage stellen. Es ist daher auch eine allgemeine Norm, ohne Unterschied


Grenzboten IV. 1860. 32
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[0261] zu blamiren. In einem Staate, der groß ist oder sein will, bilden sich aus dem Geiste seiner Institutionen, aus dem Nationalgefülile, aus traditionellen Auffassungen der Bedingungen Sumer Machtstellung gewisse Principien heraus, die zwar veränderten Verhältnissen in der Anwendung Rechnung tragen, mit denen aber nicht zu transigiren ist. Einen solchen politischen Katechismus trägt jeder Gebildete, geschweige denn jeder Diplomat, in seiner Brust, und er kann hiernach jede darauf bezügliche Frage ohne Instruction beantworten. Würde z. B. in einem Wiener Salon ein Mitglied der britischen Legation gefragt worden sein, ob die Nachricht richtig sei, daß England sein intimes Verhältniß zu Frankreich benutzt habe, um sich zur Bekämpfung eines Auf- standes in Indien ein französisches Hilfscorps zu erbitten, so würde der Brite, ohne vorerst in London anzufragen, sofort erwidern können: „nein, die Nach¬ richt ist falsch, denn was sie enthält, ist unmöglich". Eben so würde ein Fran¬ zose auf die Frage geantwortet haben, ob Frankreich seinen Schützling Me- hemed Ali im Stiche lassen und einem von andern Mächten ohne seine Mitwirkung zu dessen Ungunsten getroffenen Arrangement sich fügen würde? Der Franzose würde Unrecht behalten haben, aber die Politik, welche ihn Lügen strafte, war der erste Schritt zum Sturze Louis Philipps. Ein solches politisches Credo, welches unter allen Umständen maßgebend ist, leistet der Diplomatie treffliche Dienste, aber es ist in manchen Staaten nicht zu finden, oder doch nur in schwachen, undeutlichen Spuren. — Dann dient zuweilen als Ersatz ein Programm, welches der Kastengeist aufgestellt und angenommen hat, falls die leitenden Persönlichkeiten lind ihre Organe im auswärtigen Amte aus einer Kaste oder einer geschlossenen Partei genommen werden. Je¬ der von ihnen kennt genau die in den höchsten Kreisen wie unter den Ministern und andern einflußreichen Personen herrschende Auffassung der po¬ litischen Verhältnisse und die Richtung des ihre Behandlung leitenden Wil¬ lens. Jeder theilt selbst diese Auffassung und Willensrichtung, und wenn dann auch die Politik den wirtlichen nationalen Interessen nicht entsprechen sollte, so ist es doch eine Politik und die Diplomatie ist ihr brauchbares Werk¬ zeug. Der Zweig des öffentlichen Dienstes, welcher die Beziehungen zu den auswärtige» Staaten regelt, bedarf mehr als jeder andre Zweig des Civil¬ dienstes der strengen Unterordnung der Glieder unter das Haupt, der Ueber¬ einstimmung in allen Aeußerungen ihrer Thätigkeit. Ergeben sich Unzuträglick- keiten unter den Organen der innern Verwaltung, so werden sie bemerkt, von dem Publikum überwacht, und man kann die schmutzige Wäsche in der Fami¬ lie waschen. Spaltungen unter den Organen des auswärtigen Dienstes un¬ tergraben das Ansehen der Negierung bei allen Cabineten, schwächen sie an den empfindlichsten Stellen, und können in kritischen Momenten ihre Existenz in Frage stellen. Es ist daher auch eine allgemeine Norm, ohne Unterschied Grenzboten IV. 1860. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/261>, abgerufen am 15.01.2025.