Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

"Kindlein, liebet einander!" das bekanntlich auch Lessing Gelegenheit zu
einer seiner interessantesten kleinen Schriften gegeben hat.

Es ist schwer diesen Proteus zu fassen: er tastet nach allen Seiten hin,
und scheint über das Ziel seiner Experimente selber nicht klar geworden zu
sein. In einem Brief an Fabricius, 1698, erklärt er seine Ueberzeugung, es
sei ein eitles Unternehmen, die Doctrinen vermitteln zu wollen. Er habe
nur für die bürgerliche Duldung gearbeitet, denn das werde man nie erreichen,
daß sich die Doctoren der beiden Parteien nicht gegenseitig verdammen. "Wenn
es nur ohne Beleidigungen geschähe! Ich selber kümmere mich wenig um die
Doctrinen; ich habe immer geglaubt, das Werk sei von den Politikern, nicht
von den Theologen auszuführen: man lasse diesen ihre Sitten und Gebrauche,
aber zwinge sie zum Frieden." -- An Hiob Ludolf schreibt er, 26. Juni
1698: "unsre Hoffnungen sind gering; und doch, wenn 5 -- 6 Menschen es
wollten: Ludwig der Vierzehnte, der Kaiser, der Papst, ein paar protestantische
Fürsten, so wäre es geschehn! Vielleicht geschieht es im folgenden Jahrhun¬
dert."

Sehr übel war eS für die Unionisten, daß im Frieden von Ryßwik die
Clausel aufgenommen war, die von Frankreich an den Kaiser zurückgegebenen
Stücke vom Elsaß und Breisgau sollten ihre neuen katholischen Einrichtungen
behalten. Diese offenbare Beeinträchtigung der Protestanten hatte gerechten
Zorn erregt; mit dem Urheber der Dragonaden in Unterhandlung zu treten
war gefährlich. Und doch geschah es von Leibnip.

Nach langer Unterbrechung finden wir 16. Oct. 1698 wieder einen Brief
an Bossuet, vermittelt durch den französischen Gesandten am braunschweiger
Hof, Du H6ron. Er knüpft an die alten Verhandlungen an, und lobt Bos¬
suet wegen seines Kampfs gegen die falsche Mystik: es ist zeitgemäß, denn
die Krankheit greift immer mehr um sich; unsere Pietisten erregen ebensoviel
Lärm als eure Quietisten. Freilich darf man der wahren Andacht nicht zu
nahe treten, wol aber ihren Ausschweifungen.") -- Dieser Brief soll nur
eine Einleitung sein; es ist mehr im Werke.

Leibnitz setzt, 8. Nov. 1698, dem Herzog Anton Ulrich einen Brief für
Ludwig den Vierzehnten auf, in welchem dieser König von den bisherigen
Unterhandlungen unterrichtet und um die Wiederaufnahme derselben ersucht
werden sollte. Doch wäre es zweckmäßig, die Sache nicht blos den Geist¬
lichen zu überlassen, da Bossuet vor vier Jahren ohne Grund abgebrochen
habe; man möge ihm einen Staatsmann, einen von den Vorkämpfern der
gallicanischen Kirche zugesellen. Die Herren von der Kirche -- allen Respect



"> Auch mit der alten Dame Scudvry, die für unsern Philosophen schwärmte, wird
i" dieser Zeit ein lebhafter Briefwechsel geführt; Leib nix), gibt sich u. a. dazu her, den Tod
ihres Papagei's zu besingen. II. 219--20. 508--9. tuer. S. 23. 25.
27^

„Kindlein, liebet einander!" das bekanntlich auch Lessing Gelegenheit zu
einer seiner interessantesten kleinen Schriften gegeben hat.

Es ist schwer diesen Proteus zu fassen: er tastet nach allen Seiten hin,
und scheint über das Ziel seiner Experimente selber nicht klar geworden zu
sein. In einem Brief an Fabricius, 1698, erklärt er seine Ueberzeugung, es
sei ein eitles Unternehmen, die Doctrinen vermitteln zu wollen. Er habe
nur für die bürgerliche Duldung gearbeitet, denn das werde man nie erreichen,
daß sich die Doctoren der beiden Parteien nicht gegenseitig verdammen. „Wenn
es nur ohne Beleidigungen geschähe! Ich selber kümmere mich wenig um die
Doctrinen; ich habe immer geglaubt, das Werk sei von den Politikern, nicht
von den Theologen auszuführen: man lasse diesen ihre Sitten und Gebrauche,
aber zwinge sie zum Frieden." — An Hiob Ludolf schreibt er, 26. Juni
1698: „unsre Hoffnungen sind gering; und doch, wenn 5 — 6 Menschen es
wollten: Ludwig der Vierzehnte, der Kaiser, der Papst, ein paar protestantische
Fürsten, so wäre es geschehn! Vielleicht geschieht es im folgenden Jahrhun¬
dert."

Sehr übel war eS für die Unionisten, daß im Frieden von Ryßwik die
Clausel aufgenommen war, die von Frankreich an den Kaiser zurückgegebenen
Stücke vom Elsaß und Breisgau sollten ihre neuen katholischen Einrichtungen
behalten. Diese offenbare Beeinträchtigung der Protestanten hatte gerechten
Zorn erregt; mit dem Urheber der Dragonaden in Unterhandlung zu treten
war gefährlich. Und doch geschah es von Leibnip.

Nach langer Unterbrechung finden wir 16. Oct. 1698 wieder einen Brief
an Bossuet, vermittelt durch den französischen Gesandten am braunschweiger
Hof, Du H6ron. Er knüpft an die alten Verhandlungen an, und lobt Bos¬
suet wegen seines Kampfs gegen die falsche Mystik: es ist zeitgemäß, denn
die Krankheit greift immer mehr um sich; unsere Pietisten erregen ebensoviel
Lärm als eure Quietisten. Freilich darf man der wahren Andacht nicht zu
nahe treten, wol aber ihren Ausschweifungen.") — Dieser Brief soll nur
eine Einleitung sein; es ist mehr im Werke.

Leibnitz setzt, 8. Nov. 1698, dem Herzog Anton Ulrich einen Brief für
Ludwig den Vierzehnten auf, in welchem dieser König von den bisherigen
Unterhandlungen unterrichtet und um die Wiederaufnahme derselben ersucht
werden sollte. Doch wäre es zweckmäßig, die Sache nicht blos den Geist¬
lichen zu überlassen, da Bossuet vor vier Jahren ohne Grund abgebrochen
habe; man möge ihm einen Staatsmann, einen von den Vorkämpfern der
gallicanischen Kirche zugesellen. Die Herren von der Kirche — allen Respect



"> Auch mit der alten Dame Scudvry, die für unsern Philosophen schwärmte, wird
i» dieser Zeit ein lebhafter Briefwechsel geführt; Leib nix), gibt sich u. a. dazu her, den Tod
ihres Papagei's zu besingen. II. 219—20. 508—9. tuer. S. 23. 25.
27^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110571"/>
          <p xml:id="ID_602" prev="#ID_601"> &#x201E;Kindlein, liebet einander!" das bekanntlich auch Lessing Gelegenheit zu<lb/>
einer seiner interessantesten kleinen Schriften gegeben hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_603"> Es ist schwer diesen Proteus zu fassen: er tastet nach allen Seiten hin,<lb/>
und scheint über das Ziel seiner Experimente selber nicht klar geworden zu<lb/>
sein. In einem Brief an Fabricius, 1698, erklärt er seine Ueberzeugung, es<lb/>
sei ein eitles Unternehmen, die Doctrinen vermitteln zu wollen. Er habe<lb/>
nur für die bürgerliche Duldung gearbeitet, denn das werde man nie erreichen,<lb/>
daß sich die Doctoren der beiden Parteien nicht gegenseitig verdammen. &#x201E;Wenn<lb/>
es nur ohne Beleidigungen geschähe! Ich selber kümmere mich wenig um die<lb/>
Doctrinen; ich habe immer geglaubt, das Werk sei von den Politikern, nicht<lb/>
von den Theologen auszuführen: man lasse diesen ihre Sitten und Gebrauche,<lb/>
aber zwinge sie zum Frieden." &#x2014; An Hiob Ludolf schreibt er, 26. Juni<lb/>
1698: &#x201E;unsre Hoffnungen sind gering; und doch, wenn 5 &#x2014; 6 Menschen es<lb/>
wollten: Ludwig der Vierzehnte, der Kaiser, der Papst, ein paar protestantische<lb/>
Fürsten, so wäre es geschehn! Vielleicht geschieht es im folgenden Jahrhun¬<lb/>
dert."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_604"> Sehr übel war eS für die Unionisten, daß im Frieden von Ryßwik die<lb/>
Clausel aufgenommen war, die von Frankreich an den Kaiser zurückgegebenen<lb/>
Stücke vom Elsaß und Breisgau sollten ihre neuen katholischen Einrichtungen<lb/>
behalten. Diese offenbare Beeinträchtigung der Protestanten hatte gerechten<lb/>
Zorn erregt; mit dem Urheber der Dragonaden in Unterhandlung zu treten<lb/>
war gefährlich.  Und doch geschah es von Leibnip.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_605"> Nach langer Unterbrechung finden wir 16. Oct. 1698 wieder einen Brief<lb/>
an Bossuet, vermittelt durch den französischen Gesandten am braunschweiger<lb/>
Hof, Du H6ron. Er knüpft an die alten Verhandlungen an, und lobt Bos¬<lb/>
suet wegen seines Kampfs gegen die falsche Mystik: es ist zeitgemäß, denn<lb/>
die Krankheit greift immer mehr um sich; unsere Pietisten erregen ebensoviel<lb/>
Lärm als eure Quietisten. Freilich darf man der wahren Andacht nicht zu<lb/>
nahe treten, wol aber ihren Ausschweifungen.") &#x2014; Dieser Brief soll nur<lb/>
eine Einleitung sein; es ist mehr im Werke.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_606" next="#ID_607"> Leibnitz setzt, 8. Nov. 1698, dem Herzog Anton Ulrich einen Brief für<lb/>
Ludwig den Vierzehnten auf, in welchem dieser König von den bisherigen<lb/>
Unterhandlungen unterrichtet und um die Wiederaufnahme derselben ersucht<lb/>
werden sollte. Doch wäre es zweckmäßig, die Sache nicht blos den Geist¬<lb/>
lichen zu überlassen, da Bossuet vor vier Jahren ohne Grund abgebrochen<lb/>
habe; man möge ihm einen Staatsmann, einen von den Vorkämpfern der<lb/>
gallicanischen Kirche zugesellen.  Die Herren von der Kirche &#x2014; allen Respect</p><lb/>
          <note xml:id="FID_24" place="foot"> "&gt; Auch mit der alten Dame Scudvry, die für unsern Philosophen schwärmte, wird<lb/>
i» dieser Zeit ein lebhafter Briefwechsel geführt; Leib nix), gibt sich u. a. dazu her, den Tod<lb/>
ihres Papagei's zu besingen.  II. 219&#x2014;20. 508&#x2014;9.  tuer. S. 23. 25.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 27^</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0223] „Kindlein, liebet einander!" das bekanntlich auch Lessing Gelegenheit zu einer seiner interessantesten kleinen Schriften gegeben hat. Es ist schwer diesen Proteus zu fassen: er tastet nach allen Seiten hin, und scheint über das Ziel seiner Experimente selber nicht klar geworden zu sein. In einem Brief an Fabricius, 1698, erklärt er seine Ueberzeugung, es sei ein eitles Unternehmen, die Doctrinen vermitteln zu wollen. Er habe nur für die bürgerliche Duldung gearbeitet, denn das werde man nie erreichen, daß sich die Doctoren der beiden Parteien nicht gegenseitig verdammen. „Wenn es nur ohne Beleidigungen geschähe! Ich selber kümmere mich wenig um die Doctrinen; ich habe immer geglaubt, das Werk sei von den Politikern, nicht von den Theologen auszuführen: man lasse diesen ihre Sitten und Gebrauche, aber zwinge sie zum Frieden." — An Hiob Ludolf schreibt er, 26. Juni 1698: „unsre Hoffnungen sind gering; und doch, wenn 5 — 6 Menschen es wollten: Ludwig der Vierzehnte, der Kaiser, der Papst, ein paar protestantische Fürsten, so wäre es geschehn! Vielleicht geschieht es im folgenden Jahrhun¬ dert." Sehr übel war eS für die Unionisten, daß im Frieden von Ryßwik die Clausel aufgenommen war, die von Frankreich an den Kaiser zurückgegebenen Stücke vom Elsaß und Breisgau sollten ihre neuen katholischen Einrichtungen behalten. Diese offenbare Beeinträchtigung der Protestanten hatte gerechten Zorn erregt; mit dem Urheber der Dragonaden in Unterhandlung zu treten war gefährlich. Und doch geschah es von Leibnip. Nach langer Unterbrechung finden wir 16. Oct. 1698 wieder einen Brief an Bossuet, vermittelt durch den französischen Gesandten am braunschweiger Hof, Du H6ron. Er knüpft an die alten Verhandlungen an, und lobt Bos¬ suet wegen seines Kampfs gegen die falsche Mystik: es ist zeitgemäß, denn die Krankheit greift immer mehr um sich; unsere Pietisten erregen ebensoviel Lärm als eure Quietisten. Freilich darf man der wahren Andacht nicht zu nahe treten, wol aber ihren Ausschweifungen.") — Dieser Brief soll nur eine Einleitung sein; es ist mehr im Werke. Leibnitz setzt, 8. Nov. 1698, dem Herzog Anton Ulrich einen Brief für Ludwig den Vierzehnten auf, in welchem dieser König von den bisherigen Unterhandlungen unterrichtet und um die Wiederaufnahme derselben ersucht werden sollte. Doch wäre es zweckmäßig, die Sache nicht blos den Geist¬ lichen zu überlassen, da Bossuet vor vier Jahren ohne Grund abgebrochen habe; man möge ihm einen Staatsmann, einen von den Vorkämpfern der gallicanischen Kirche zugesellen. Die Herren von der Kirche — allen Respect "> Auch mit der alten Dame Scudvry, die für unsern Philosophen schwärmte, wird i» dieser Zeit ein lebhafter Briefwechsel geführt; Leib nix), gibt sich u. a. dazu her, den Tod ihres Papagei's zu besingen. II. 219—20. 508—9. tuer. S. 23. 25. 27^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/223
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/223>, abgerufen am 15.01.2025.