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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Geschichtsschreiber der glorreichen Regierung Sr. Majestät geworden. Mit
seiner Schrift hatte er es, wie Bossuet mit seiner Exposition aus die Bekeh¬
rung seiner ehemaligen Glaubensgenossen abgesehn. Sophie gab sie, wie alles,
Leibnitz zur Begutachtung. -- Das erste Gutachten ist schon geschrieben und
enthält den Kern seiner Gesinnungen. -- Leibnitz gibt zu, daß man, xonr
Lire et'une relixion, et surtout (setzt er hinzu) xour 1s. elranZer, erhebliche
Gründe finden muß: von diesen sind aber diejenigen, welche sich in die Form
einer Beweisführung redigiren lassen, keineswegs die wichtigsten; daneben be¬
steh" noch andere, die sich nicht erklären lassen, die in einer innern Wahrneh¬
mung und in einer Gesühlserfahrung beruhn, welche man andern, so wie
sie ist, gar nicht mittheilen kann. Ganz so ist es mit dem Geschmack an
einem Sonett, einer Person, einem Ragout. Dieses innere Licht, diesen gehei¬
men Rest der Wahrheit geben auch die Katholiken zu: denn außer den posi¬
tiven Gründen der Glaublichkeit, die einen verwirrten Haufen bilden und nur
,une toi Irumaine hervorbringen, verlangen sie zur vollständigen Ueberzeugung
noch ein Licht der Gnade vom Himmel. Sie können also von denen, die
sich auf das nämliche Licht berufen, nichts anderes fordern, als daß sie ehrlich
sind, daß sie wirklich das Licht zu empfinden glauben, dessen sie sich rühmen.
Da es aber mit der Untersuchung des individuellen Gewissens eine mißliche
Sache ist: -- gibt es, Herr Pellisson, einen objectiven Prüfstein, das göttliche
Licht von der Illusion zu unterscheiden? -- Pellisson vertheidigt die Unfehl¬
barkeit der Kirche damit, daß es nur wenig Menschen gibt, die ihren Glauben
vollständig mit Gründen belegen können: äono le peuxle g, befeilt ni'une
mar-Mo claire et iiMillibls <M gM ^ ig. Portes as tout le inonäs. Dage¬
gen bemerkt Leibnitz, es sei nicht nöthig, daß das Volk sich um alle Glau¬
bensartikel kümmere; ja er fragt, ob überhaupt irgend ein Artikel der Offen¬
barung unbedingt nöthig sei, und ob man nicht in allen Religionen selig
werden könne? vorausgesetzt, daß man Gott über alle Dinge l.lebt, xar un
-rmour et'amitie, t'vuae 8ur ses veikeetious intimes. Das ist zwar ein von
den Protestanten verworfenes Argument, das aber mehrere scholastische Kirchenleh¬
rer gelten lassen; auch manche Jesuiten gehn darauf ein. -- Die Denkschrift wird
durch Schwester Marie an Pellisson geschickt, der sie 4. September 1V90 beant¬
wortet. -- Er gibt ein individuelles Licht zu, dessen man aber vor dem Tode
niemals sicher sei; es könne daher nur ein mitwirkendes, nie ein bestimmendes
Motiv sein. Das von der Kirche bewahrte Licht dagegen ist untrüglich:
ZM'ce <zue Dien ne xeut ßtre contraire ü, Dien, in ig, KiÄce Z, la, Araee. --
Der untrügliche Prüfstein zur Unterscheidung der echten und falschen Gnade ist
folgender. Die falsche Gnade, nicht blos des Wiedertäufers, des Fanatikers,
sondern auch dessen, der vernünftiger oder furchtsamer, sich eine Privatreligion
für sich selbst ausmalt, kann alle Aeußerlichkeiten des Christenthums haben;


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Geschichtsschreiber der glorreichen Regierung Sr. Majestät geworden. Mit
seiner Schrift hatte er es, wie Bossuet mit seiner Exposition aus die Bekeh¬
rung seiner ehemaligen Glaubensgenossen abgesehn. Sophie gab sie, wie alles,
Leibnitz zur Begutachtung. — Das erste Gutachten ist schon geschrieben und
enthält den Kern seiner Gesinnungen. — Leibnitz gibt zu, daß man, xonr
Lire et'une relixion, et surtout (setzt er hinzu) xour 1s. elranZer, erhebliche
Gründe finden muß: von diesen sind aber diejenigen, welche sich in die Form
einer Beweisführung redigiren lassen, keineswegs die wichtigsten; daneben be¬
steh» noch andere, die sich nicht erklären lassen, die in einer innern Wahrneh¬
mung und in einer Gesühlserfahrung beruhn, welche man andern, so wie
sie ist, gar nicht mittheilen kann. Ganz so ist es mit dem Geschmack an
einem Sonett, einer Person, einem Ragout. Dieses innere Licht, diesen gehei¬
men Rest der Wahrheit geben auch die Katholiken zu: denn außer den posi¬
tiven Gründen der Glaublichkeit, die einen verwirrten Haufen bilden und nur
,une toi Irumaine hervorbringen, verlangen sie zur vollständigen Ueberzeugung
noch ein Licht der Gnade vom Himmel. Sie können also von denen, die
sich auf das nämliche Licht berufen, nichts anderes fordern, als daß sie ehrlich
sind, daß sie wirklich das Licht zu empfinden glauben, dessen sie sich rühmen.
Da es aber mit der Untersuchung des individuellen Gewissens eine mißliche
Sache ist: — gibt es, Herr Pellisson, einen objectiven Prüfstein, das göttliche
Licht von der Illusion zu unterscheiden? — Pellisson vertheidigt die Unfehl¬
barkeit der Kirche damit, daß es nur wenig Menschen gibt, die ihren Glauben
vollständig mit Gründen belegen können: äono le peuxle g, befeilt ni'une
mar-Mo claire et iiMillibls <M gM ^ ig. Portes as tout le inonäs. Dage¬
gen bemerkt Leibnitz, es sei nicht nöthig, daß das Volk sich um alle Glau¬
bensartikel kümmere; ja er fragt, ob überhaupt irgend ein Artikel der Offen¬
barung unbedingt nöthig sei, und ob man nicht in allen Religionen selig
werden könne? vorausgesetzt, daß man Gott über alle Dinge l.lebt, xar un
-rmour et'amitie, t'vuae 8ur ses veikeetious intimes. Das ist zwar ein von
den Protestanten verworfenes Argument, das aber mehrere scholastische Kirchenleh¬
rer gelten lassen; auch manche Jesuiten gehn darauf ein. — Die Denkschrift wird
durch Schwester Marie an Pellisson geschickt, der sie 4. September 1V90 beant¬
wortet. — Er gibt ein individuelles Licht zu, dessen man aber vor dem Tode
niemals sicher sei; es könne daher nur ein mitwirkendes, nie ein bestimmendes
Motiv sein. Das von der Kirche bewahrte Licht dagegen ist untrüglich:
ZM'ce <zue Dien ne xeut ßtre contraire ü, Dien, in ig, KiÄce Z, la, Araee. —
Der untrügliche Prüfstein zur Unterscheidung der echten und falschen Gnade ist
folgender. Die falsche Gnade, nicht blos des Wiedertäufers, des Fanatikers,
sondern auch dessen, der vernünftiger oder furchtsamer, sich eine Privatreligion
für sich selbst ausmalt, kann alle Aeußerlichkeiten des Christenthums haben;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/183>, abgerufen am 15.01.2025.