Collectio" der damals gangbaren Straßengedichtc als Andenken an den Markt von Limerick mit heimgebracht. Sie sind sämmtlich auf große, schmutzig-gelbe Blatter gedruckt und verläugnen schon durch ihr bloßes Aeußere weder ihre Abkunft noch ihre Bestimmung, Sie tragen in einer von den Ecken den Namen ihres Druckers -- von dem Dichter ist nirgends die Rede, so daß sich das Lied, indem es aus dem Bewußtsein des Volkes hervorgeht und dahin zurückkehrt, vollständig als Eigenthum desselben zu erkennen gibt. In einer andern Ecke liest man Bemerkungen wie die folgenden: "Landverkäufer -- merkt es Euch, daß S. B. Goggin, der Drucker, fortwährend mit einem vollstän¬ digen Vorrath von Bildern und Balladen versehen ist, die allesammt unter seiner eignen Aufsicht angefertigt werden." -- Man kann über diese Bemerkungen lächeln; man kann aber auch recht traurig darüber werden. Es geht daraus hervor, daß das poetische Bedürfniß des Volkes geblieben ist, wie es war; und es ist wol ein neues Zeichen seines Unglücks, aber kein Tadel für dasselbe, daß man dieses Bedürfniß nur noch fabrikmäßig befriedigen kann. Was nun die "Bilder" anbelangt, die Meister Goggin empfiehlt, so stellen diese in der Mehrzahl die männlichen und weiblichen Heiligen dar. deren die Insel mehrere Tausende zählt und die den einzigen Schmuck der irischen Bauernhütte bilden. Der Vater, die Mutter, jedes von den Kindern hat seinen eignen Patron, welcher an die Lehmwand oder über das ärmliche Strohlager geheftet und in gewissen Zwischenräumen durch eine neue Abbildung ersetzt wird. Der Rest der Bilder ist von sehr kunstloser Natur, und man sieht selten ein Blatt mit Straßcnballaden, das nicht mit einem oder mehreren Beispielen derselben verziert wäre. Da sehn wir "der treuen Liebhaberin Klage", mit dem Sinnbild eines Elephanten darüber. Ueber dem "Fall des Unterrocks" -- einer bittren Satyre gegen die Frauen der englischen Städtebevölkerung -- sitzt ein Affe; und "der gute Arbeitsmann" ist mit einem Esel bedacht.
Was nun die irischen Straßenballadni anlangt, so bilden sie den hervor¬ ragendsten Bestand der sogenannte anglo-irischen Literatur, d. h. sie sind englisch geschrieben und gedruckt, und circuliren nur unter der englisch redenden Be¬ völkerung Irlands; aber der Geist, den sie athmen, ist ächt irisch. Ihre Gegenstände sind unveränderlich der Abschied von der Heimath, die Aus¬ wanderung nach Amerika, Verurtheilung und Hinrichtung von Missethätern, wobei der Richter jedesmal grausam, der Vertheidiger stets "edel" und . kühn" und der Verbrecher selbst ein Gegenstand der tiefsten Sympathie ist; die große Masse der Straßenballaden von Irland aber vertheilt sich auf die Liebesbal¬ lade und die Parteiballade. ,,Jn der Liebesballade sind besonders zwei Dinge bemerkbar,, welche den Charakter des Volkes treulich widerspiegeln; erstens: Gesetzliche Verheirathung ist gleichmäßig das Ziel und Ende, zwei¬ tens: Davonlaufen ist sehr gebräuchlich und wird nicht im Mindesten für
Collectio» der damals gangbaren Straßengedichtc als Andenken an den Markt von Limerick mit heimgebracht. Sie sind sämmtlich auf große, schmutzig-gelbe Blatter gedruckt und verläugnen schon durch ihr bloßes Aeußere weder ihre Abkunft noch ihre Bestimmung, Sie tragen in einer von den Ecken den Namen ihres Druckers — von dem Dichter ist nirgends die Rede, so daß sich das Lied, indem es aus dem Bewußtsein des Volkes hervorgeht und dahin zurückkehrt, vollständig als Eigenthum desselben zu erkennen gibt. In einer andern Ecke liest man Bemerkungen wie die folgenden: „Landverkäufer — merkt es Euch, daß S. B. Goggin, der Drucker, fortwährend mit einem vollstän¬ digen Vorrath von Bildern und Balladen versehen ist, die allesammt unter seiner eignen Aufsicht angefertigt werden." — Man kann über diese Bemerkungen lächeln; man kann aber auch recht traurig darüber werden. Es geht daraus hervor, daß das poetische Bedürfniß des Volkes geblieben ist, wie es war; und es ist wol ein neues Zeichen seines Unglücks, aber kein Tadel für dasselbe, daß man dieses Bedürfniß nur noch fabrikmäßig befriedigen kann. Was nun die „Bilder" anbelangt, die Meister Goggin empfiehlt, so stellen diese in der Mehrzahl die männlichen und weiblichen Heiligen dar. deren die Insel mehrere Tausende zählt und die den einzigen Schmuck der irischen Bauernhütte bilden. Der Vater, die Mutter, jedes von den Kindern hat seinen eignen Patron, welcher an die Lehmwand oder über das ärmliche Strohlager geheftet und in gewissen Zwischenräumen durch eine neue Abbildung ersetzt wird. Der Rest der Bilder ist von sehr kunstloser Natur, und man sieht selten ein Blatt mit Straßcnballaden, das nicht mit einem oder mehreren Beispielen derselben verziert wäre. Da sehn wir „der treuen Liebhaberin Klage", mit dem Sinnbild eines Elephanten darüber. Ueber dem „Fall des Unterrocks" — einer bittren Satyre gegen die Frauen der englischen Städtebevölkerung — sitzt ein Affe; und „der gute Arbeitsmann" ist mit einem Esel bedacht.
Was nun die irischen Straßenballadni anlangt, so bilden sie den hervor¬ ragendsten Bestand der sogenannte anglo-irischen Literatur, d. h. sie sind englisch geschrieben und gedruckt, und circuliren nur unter der englisch redenden Be¬ völkerung Irlands; aber der Geist, den sie athmen, ist ächt irisch. Ihre Gegenstände sind unveränderlich der Abschied von der Heimath, die Aus¬ wanderung nach Amerika, Verurtheilung und Hinrichtung von Missethätern, wobei der Richter jedesmal grausam, der Vertheidiger stets „edel" und . kühn" und der Verbrecher selbst ein Gegenstand der tiefsten Sympathie ist; die große Masse der Straßenballaden von Irland aber vertheilt sich auf die Liebesbal¬ lade und die Parteiballade. ,,Jn der Liebesballade sind besonders zwei Dinge bemerkbar,, welche den Charakter des Volkes treulich widerspiegeln; erstens: Gesetzliche Verheirathung ist gleichmäßig das Ziel und Ende, zwei¬ tens: Davonlaufen ist sehr gebräuchlich und wird nicht im Mindesten für
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Collectio» der damals gangbaren Straßengedichtc als Andenken an den Markt
von Limerick mit heimgebracht. Sie sind sämmtlich auf große, schmutzig-gelbe
Blatter gedruckt und verläugnen schon durch ihr bloßes Aeußere weder ihre
Abkunft noch ihre Bestimmung, Sie tragen in einer von den Ecken den Namen
ihres Druckers — von dem Dichter ist nirgends die Rede, so daß sich das Lied,
indem es aus dem Bewußtsein des Volkes hervorgeht und dahin zurückkehrt,
vollständig als Eigenthum desselben zu erkennen gibt. In einer andern Ecke
liest man Bemerkungen wie die folgenden: „Landverkäufer — merkt es
Euch, daß S. B. Goggin, der Drucker, fortwährend mit einem vollstän¬
digen Vorrath von Bildern und Balladen versehen ist, die allesammt
unter seiner eignen Aufsicht angefertigt werden." — Man kann über diese
Bemerkungen lächeln; man kann aber auch recht traurig darüber werden.
Es geht daraus hervor, daß das poetische Bedürfniß des Volkes geblieben
ist, wie es war; und es ist wol ein neues Zeichen seines Unglücks, aber kein
Tadel für dasselbe, daß man dieses Bedürfniß nur noch fabrikmäßig befriedigen
kann. Was nun die „Bilder" anbelangt, die Meister Goggin empfiehlt, so
stellen diese in der Mehrzahl die männlichen und weiblichen Heiligen dar. deren
die Insel mehrere Tausende zählt und die den einzigen Schmuck der irischen
Bauernhütte bilden. Der Vater, die Mutter, jedes von den Kindern hat seinen
eignen Patron, welcher an die Lehmwand oder über das ärmliche Strohlager
geheftet und in gewissen Zwischenräumen durch eine neue Abbildung ersetzt
wird. Der Rest der Bilder ist von sehr kunstloser Natur, und man sieht selten
ein Blatt mit Straßcnballaden, das nicht mit einem oder mehreren Beispielen
derselben verziert wäre. Da sehn wir „der treuen Liebhaberin Klage", mit
dem Sinnbild eines Elephanten darüber. Ueber dem „Fall des Unterrocks" —
einer bittren Satyre gegen die Frauen der englischen Städtebevölkerung —
sitzt ein Affe; und „der gute Arbeitsmann" ist mit einem Esel bedacht.
Was nun die irischen Straßenballadni anlangt, so bilden sie den hervor¬
ragendsten Bestand der sogenannte anglo-irischen Literatur, d. h. sie sind englisch
geschrieben und gedruckt, und circuliren nur unter der englisch redenden Be¬
völkerung Irlands; aber der Geist, den sie athmen, ist ächt irisch. Ihre
Gegenstände sind unveränderlich der Abschied von der Heimath, die Aus¬
wanderung nach Amerika, Verurtheilung und Hinrichtung von Missethätern,
wobei der Richter jedesmal grausam, der Vertheidiger stets „edel" und . kühn"
und der Verbrecher selbst ein Gegenstand der tiefsten Sympathie ist; die große
Masse der Straßenballaden von Irland aber vertheilt sich auf die Liebesbal¬
lade und die Parteiballade. ,,Jn der Liebesballade sind besonders zwei
Dinge bemerkbar,, welche den Charakter des Volkes treulich widerspiegeln;
erstens: Gesetzliche Verheirathung ist gleichmäßig das Ziel und Ende, zwei¬
tens: Davonlaufen ist sehr gebräuchlich und wird nicht im Mindesten für
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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/121>, abgerufen am 25.01.2025.
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