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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Tollkühnheit schon gehabt hat, daß er Majestäten lächerlich, ja verächtlich ge¬
macht, daß er wirtlich regierende Könige kritisirt, wie er es an seiner Majestät
dem König von Preußen, gethan hat, was wird der nicht ferner vermögend sein
zu bewerkstelligen?"

Wir finden Edelmann im folgenden Jahr wieder in der Nähe von Ham¬
burg, wo man fortfährt gegen ihn zu predigen- an der Spitze der Senior
Wagner, der Vorgänger Goeze's, der erfahrenste Ketzerrichter jener Tage, in
einem weitläufigen Wert: "die Wahrheit und Göttlichfeit der heiligen Schrift".
Ziegra, Pfotenhauer u> f. w. Als sich im folgenden Jahr dus falsche
Gerücht von seinem Tode verbreitete, liehen seine Anhänger lateinische Lob¬
gedichte auf ihn in den Hamburger Zeitungen abdrucken; auf Wagners
Betrieb ließ sie der Senat 15, Ang. 1749 öffentlich verbrennen. Auch in Frank¬
furt am Main wurden nach kaiserlicher Verordnung 9. Mai 1750 seine sämmt¬
lichen Schriften dnrch Henkers Hand verbrannt und auf seine Person gefahndet.
Aber er hatte schon zu Ende des Jahres 1749 eine sichere Zuflucht in Berlin
gefunden. Der König hatte dem Andrängen seiner Geistlichkeit damit geant¬
wortet: er müsse so viele Narren in seinem Lande dulden, er sähe nicht ein,
warum er Edelmann den Aufenthalt versagen solle. Doch wurde ihm auf¬
gegeben, nichts drucken zu lassen. Im November 1749 begann er seine Selbst¬
biographie, sie macht im Ganzen den Eindruck großer Heiterkeit und freier
Gemüthsstimmung. In seinen letzten Jahren scheint er nichts mehr geschrieben
zu haben; er starb erst 1767, gänzlich vergessen. Sein Leben bildet bei man¬
chen interessanten Einzelheiten im Ganzen ein zerfahrenes Bild, und was er
erstrebte, hat nicht viel Frucht getragen: es kam uns hier auch weniger darauf
an, ihn selber zu charakterisiren, als die Zustände und die Menschen, mit denen
er es zu thun hatte. -- Der richtigen Färbung wegen bedarf aber dieses Bild
noch eines Gegenbildes. Daß es damals keineswegs unzeitgemäß war, gegen
die Hypochondrie des Sündenbewußtseins zu predigen, davon möge hier ein
auffallendes Beispiel mitgetheilt werden. Und diesmal ist es nicht ein Ver¬
such in anima, piu, sondern an einer tüchtigen, ja bedeutenden Natur.

Albrecht von Haller war durch die erste Ausgabe seiner "Schweizer
Gedichte" 1732 ein berühmter Mann geworden; die gelehrte Welt kannte ihn
schon damals -- er war noch^nicht 24 Jahr alt -- als großen Physiologen;
außerdem war er in allen Zweigen des Wissens, und nicht blos oberflächlich
zu Hause. Im Januar 1736 erhielt er einen Ruf an die neugegründete
Universität Göttingen, er kam daselbst den 30. Septbr. an; ein unglücklicher
Fall veranlaßte den Tod seiner geliebten Gattin, 31. Okt. Die Trauerode
auf Marianne ist bekannt, sie gehört unstreitig zu den schönsten Elegien jener
Zeit. Von dieser Periode an dicke er sich ein Tagebuch, das er sast ununter¬
brochen bis zu seinem Tode -- vom 23. Jahre bis zum 69. -- fortführte.


Tollkühnheit schon gehabt hat, daß er Majestäten lächerlich, ja verächtlich ge¬
macht, daß er wirtlich regierende Könige kritisirt, wie er es an seiner Majestät
dem König von Preußen, gethan hat, was wird der nicht ferner vermögend sein
zu bewerkstelligen?"

Wir finden Edelmann im folgenden Jahr wieder in der Nähe von Ham¬
burg, wo man fortfährt gegen ihn zu predigen- an der Spitze der Senior
Wagner, der Vorgänger Goeze's, der erfahrenste Ketzerrichter jener Tage, in
einem weitläufigen Wert: „die Wahrheit und Göttlichfeit der heiligen Schrift".
Ziegra, Pfotenhauer u> f. w. Als sich im folgenden Jahr dus falsche
Gerücht von seinem Tode verbreitete, liehen seine Anhänger lateinische Lob¬
gedichte auf ihn in den Hamburger Zeitungen abdrucken; auf Wagners
Betrieb ließ sie der Senat 15, Ang. 1749 öffentlich verbrennen. Auch in Frank¬
furt am Main wurden nach kaiserlicher Verordnung 9. Mai 1750 seine sämmt¬
lichen Schriften dnrch Henkers Hand verbrannt und auf seine Person gefahndet.
Aber er hatte schon zu Ende des Jahres 1749 eine sichere Zuflucht in Berlin
gefunden. Der König hatte dem Andrängen seiner Geistlichkeit damit geant¬
wortet: er müsse so viele Narren in seinem Lande dulden, er sähe nicht ein,
warum er Edelmann den Aufenthalt versagen solle. Doch wurde ihm auf¬
gegeben, nichts drucken zu lassen. Im November 1749 begann er seine Selbst¬
biographie, sie macht im Ganzen den Eindruck großer Heiterkeit und freier
Gemüthsstimmung. In seinen letzten Jahren scheint er nichts mehr geschrieben
zu haben; er starb erst 1767, gänzlich vergessen. Sein Leben bildet bei man¬
chen interessanten Einzelheiten im Ganzen ein zerfahrenes Bild, und was er
erstrebte, hat nicht viel Frucht getragen: es kam uns hier auch weniger darauf
an, ihn selber zu charakterisiren, als die Zustände und die Menschen, mit denen
er es zu thun hatte. — Der richtigen Färbung wegen bedarf aber dieses Bild
noch eines Gegenbildes. Daß es damals keineswegs unzeitgemäß war, gegen
die Hypochondrie des Sündenbewußtseins zu predigen, davon möge hier ein
auffallendes Beispiel mitgetheilt werden. Und diesmal ist es nicht ein Ver¬
such in anima, piu, sondern an einer tüchtigen, ja bedeutenden Natur.

Albrecht von Haller war durch die erste Ausgabe seiner „Schweizer
Gedichte" 1732 ein berühmter Mann geworden; die gelehrte Welt kannte ihn
schon damals — er war noch^nicht 24 Jahr alt — als großen Physiologen;
außerdem war er in allen Zweigen des Wissens, und nicht blos oberflächlich
zu Hause. Im Januar 1736 erhielt er einen Ruf an die neugegründete
Universität Göttingen, er kam daselbst den 30. Septbr. an; ein unglücklicher
Fall veranlaßte den Tod seiner geliebten Gattin, 31. Okt. Die Trauerode
auf Marianne ist bekannt, sie gehört unstreitig zu den schönsten Elegien jener
Zeit. Von dieser Periode an dicke er sich ein Tagebuch, das er sast ununter¬
brochen bis zu seinem Tode — vom 23. Jahre bis zum 69. — fortführte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/513>, abgerufen am 24.07.2024.