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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Einige Auszüge aus demselben werden die pietistische Stimmung, die sich in
jenen Tagen auch der hellsten Köpfe bemächtigte, versinnlichen.

2. Dec. 1736 beginnt das Tagebuch. -- "Durch den Tod meiner ge¬
liebten Marianne wurde ich in eine große Traurigkeit versetzt, und es wachte
insonderheit mein Gewissen auf, als ich bedachte, wie man im Todeskampf
so sehnlich seufzt über die Sünden, die.man ohne Bedenken täglich thut. Ich
erschrecke über die fürchterlichen Folgen eines unheiligen Lebens. Immer hat sich
etwas in mir nach der Besserung gesehnt, aber ohne rechte Liebe zu Gott, ohne
Rührung, ohne Haß der Sünde, ja ohne genügsame Reue und Traurigkeit.
Ich kann weder recht beten, noch an Christi Verdienst Antheil nehmen; ich
bleibe in einer dürren und ängstlichen Ungewißheit. Denn die Welt liebe ich.
Hochmuth und insonderheit Unreinigkeit herrscht in meinen Gedanken. Ich
habe Ursache zu zweifeln, ob etwas Gutes an mir sei. O Gott! erweiche
mein fühlloses Herz! -- 8. Dec. -- Gottlob, ein Fünklein des Glaubens!^
so schwach es auch ist, so munteres mich auf. -- 17. Dec. -- Schon lange
nichts Göttliches mehr! Eitelkeit, Neid, Haß, Zorn; -- o was soll aus mir
werden! Ich habe nicht mehr Kraft zu seufzen. Heiliger Geist zerknirsche
mich! -- 18, Dec, -- Nichts gebessert. Aeußerlich Ruhe. Ich vergesse mei¬
nen Gram nach und nach. Aber mit Gott wie stehts? Lau ohne Eifer,
ohne Furcht, ohne Liebe. -- 19. Dec. -- Elendes Gebet ohne Kraft und
Glauben. Elende Entschließungen ohne Erfolg. Noch immer Ungeduld,
Ruhmsucht, heimlich auch wol öffentlich. Auch Zorn und Hader. Indessen
verläuft die Zeit der Gnade, und wer weiß, wie lange sie währen wird? --
1737, 6, Jan. -- Elender Zustand, wenn man sich selbst nicht besehn darf und
vor dem Spiegel sich scheut! O wie viel besser waren meine traurigen Tage,
als dieser weltliche Verdruß. -- 13, Jan. -- Ich war krank. Gott hat in
dieser Zeit mich etwas von der Süßigkeit der Gläubigen schmecken lassen.
O daß ich diese Erinnerung nie wieder verliere! -- 10. Febr. -- Der Zu¬
stand meiner wankenden Gesundheit erinnert mich an Gott zu denken. Ich
danke dir Gott für diese Gnade, da ich sonst deiner bald vergessen würde. --
26. Febr. -- Weit schlechter als jemals. Ich darf nicht mehr sagen, Herr
bekehre mich! Mein Herz ist zu schlimm und zu falsch. Aber was soll ich
denn sagen? Herr erbarme dich meiner, um deiner grundlosen Güte willen!
-- 25. März. -- Unfruchtbare Entschließungen, die ich nicht in Augen ge¬
habt und an die ich so zu sagen niemals gedacht, darf ich noch andere
machen? -- 10. April. -- Heiland der Welt! gib mir Gnade, mein Elend
zu fühlen! -- 14. April. -- Mein Herz hängt an der Welt, so wenig es
auch Ursache an der Welt findet, daran zu hangen. O Gott! es kennt dich
nicht; es denkt an dich mit Undank, ja wol mit heimlichem Haß, wie ein
Verurtheilter an seinen Richter. -- 15, Mai. -- Noch ist mein ganzes Leben


Einige Auszüge aus demselben werden die pietistische Stimmung, die sich in
jenen Tagen auch der hellsten Köpfe bemächtigte, versinnlichen.

2. Dec. 1736 beginnt das Tagebuch. — „Durch den Tod meiner ge¬
liebten Marianne wurde ich in eine große Traurigkeit versetzt, und es wachte
insonderheit mein Gewissen auf, als ich bedachte, wie man im Todeskampf
so sehnlich seufzt über die Sünden, die.man ohne Bedenken täglich thut. Ich
erschrecke über die fürchterlichen Folgen eines unheiligen Lebens. Immer hat sich
etwas in mir nach der Besserung gesehnt, aber ohne rechte Liebe zu Gott, ohne
Rührung, ohne Haß der Sünde, ja ohne genügsame Reue und Traurigkeit.
Ich kann weder recht beten, noch an Christi Verdienst Antheil nehmen; ich
bleibe in einer dürren und ängstlichen Ungewißheit. Denn die Welt liebe ich.
Hochmuth und insonderheit Unreinigkeit herrscht in meinen Gedanken. Ich
habe Ursache zu zweifeln, ob etwas Gutes an mir sei. O Gott! erweiche
mein fühlloses Herz! — 8. Dec. — Gottlob, ein Fünklein des Glaubens!^
so schwach es auch ist, so munteres mich auf. — 17. Dec. — Schon lange
nichts Göttliches mehr! Eitelkeit, Neid, Haß, Zorn; — o was soll aus mir
werden! Ich habe nicht mehr Kraft zu seufzen. Heiliger Geist zerknirsche
mich! — 18, Dec, — Nichts gebessert. Aeußerlich Ruhe. Ich vergesse mei¬
nen Gram nach und nach. Aber mit Gott wie stehts? Lau ohne Eifer,
ohne Furcht, ohne Liebe. — 19. Dec. — Elendes Gebet ohne Kraft und
Glauben. Elende Entschließungen ohne Erfolg. Noch immer Ungeduld,
Ruhmsucht, heimlich auch wol öffentlich. Auch Zorn und Hader. Indessen
verläuft die Zeit der Gnade, und wer weiß, wie lange sie währen wird? —
1737, 6, Jan. — Elender Zustand, wenn man sich selbst nicht besehn darf und
vor dem Spiegel sich scheut! O wie viel besser waren meine traurigen Tage,
als dieser weltliche Verdruß. — 13, Jan. — Ich war krank. Gott hat in
dieser Zeit mich etwas von der Süßigkeit der Gläubigen schmecken lassen.
O daß ich diese Erinnerung nie wieder verliere! — 10. Febr. — Der Zu¬
stand meiner wankenden Gesundheit erinnert mich an Gott zu denken. Ich
danke dir Gott für diese Gnade, da ich sonst deiner bald vergessen würde. —
26. Febr. — Weit schlechter als jemals. Ich darf nicht mehr sagen, Herr
bekehre mich! Mein Herz ist zu schlimm und zu falsch. Aber was soll ich
denn sagen? Herr erbarme dich meiner, um deiner grundlosen Güte willen!
— 25. März. — Unfruchtbare Entschließungen, die ich nicht in Augen ge¬
habt und an die ich so zu sagen niemals gedacht, darf ich noch andere
machen? — 10. April. — Heiland der Welt! gib mir Gnade, mein Elend
zu fühlen! — 14. April. — Mein Herz hängt an der Welt, so wenig es
auch Ursache an der Welt findet, daran zu hangen. O Gott! es kennt dich
nicht; es denkt an dich mit Undank, ja wol mit heimlichem Haß, wie ein
Verurtheilter an seinen Richter. — 15, Mai. — Noch ist mein ganzes Leben


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[0514] Einige Auszüge aus demselben werden die pietistische Stimmung, die sich in jenen Tagen auch der hellsten Köpfe bemächtigte, versinnlichen. 2. Dec. 1736 beginnt das Tagebuch. — „Durch den Tod meiner ge¬ liebten Marianne wurde ich in eine große Traurigkeit versetzt, und es wachte insonderheit mein Gewissen auf, als ich bedachte, wie man im Todeskampf so sehnlich seufzt über die Sünden, die.man ohne Bedenken täglich thut. Ich erschrecke über die fürchterlichen Folgen eines unheiligen Lebens. Immer hat sich etwas in mir nach der Besserung gesehnt, aber ohne rechte Liebe zu Gott, ohne Rührung, ohne Haß der Sünde, ja ohne genügsame Reue und Traurigkeit. Ich kann weder recht beten, noch an Christi Verdienst Antheil nehmen; ich bleibe in einer dürren und ängstlichen Ungewißheit. Denn die Welt liebe ich. Hochmuth und insonderheit Unreinigkeit herrscht in meinen Gedanken. Ich habe Ursache zu zweifeln, ob etwas Gutes an mir sei. O Gott! erweiche mein fühlloses Herz! — 8. Dec. — Gottlob, ein Fünklein des Glaubens!^ so schwach es auch ist, so munteres mich auf. — 17. Dec. — Schon lange nichts Göttliches mehr! Eitelkeit, Neid, Haß, Zorn; — o was soll aus mir werden! Ich habe nicht mehr Kraft zu seufzen. Heiliger Geist zerknirsche mich! — 18, Dec, — Nichts gebessert. Aeußerlich Ruhe. Ich vergesse mei¬ nen Gram nach und nach. Aber mit Gott wie stehts? Lau ohne Eifer, ohne Furcht, ohne Liebe. — 19. Dec. — Elendes Gebet ohne Kraft und Glauben. Elende Entschließungen ohne Erfolg. Noch immer Ungeduld, Ruhmsucht, heimlich auch wol öffentlich. Auch Zorn und Hader. Indessen verläuft die Zeit der Gnade, und wer weiß, wie lange sie währen wird? — 1737, 6, Jan. — Elender Zustand, wenn man sich selbst nicht besehn darf und vor dem Spiegel sich scheut! O wie viel besser waren meine traurigen Tage, als dieser weltliche Verdruß. — 13, Jan. — Ich war krank. Gott hat in dieser Zeit mich etwas von der Süßigkeit der Gläubigen schmecken lassen. O daß ich diese Erinnerung nie wieder verliere! — 10. Febr. — Der Zu¬ stand meiner wankenden Gesundheit erinnert mich an Gott zu denken. Ich danke dir Gott für diese Gnade, da ich sonst deiner bald vergessen würde. — 26. Febr. — Weit schlechter als jemals. Ich darf nicht mehr sagen, Herr bekehre mich! Mein Herz ist zu schlimm und zu falsch. Aber was soll ich denn sagen? Herr erbarme dich meiner, um deiner grundlosen Güte willen! — 25. März. — Unfruchtbare Entschließungen, die ich nicht in Augen ge¬ habt und an die ich so zu sagen niemals gedacht, darf ich noch andere machen? — 10. April. — Heiland der Welt! gib mir Gnade, mein Elend zu fühlen! — 14. April. — Mein Herz hängt an der Welt, so wenig es auch Ursache an der Welt findet, daran zu hangen. O Gott! es kennt dich nicht; es denkt an dich mit Undank, ja wol mit heimlichem Haß, wie ein Verurtheilter an seinen Richter. — 15, Mai. — Noch ist mein ganzes Leben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/514>, abgerufen am 24.07.2024.