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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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gierung zerstört wurden, die Siedeleien von Starodub*), die nach dieser
Zeit Hauptmittelpunkt der hierarchischen Sekten wurden, und wo sich bald neben
der Hauptkirche 17 andere Kirchen, 16 große Kapellen und 4 Klöster erhoben,
von denen das eine von mehr als 700 Nonnen bewohnt war, die Siedeleien
am Jrgis, einem nördlich von Saratow in die Wolga mündenden Flusse,
der Friedhof zu Rogosh, in Moskau, der die zu den Raskolniken über¬
tretenden russischen Popen einer neuen Firmung unterzieht, endlich die außer¬
ordentlich zahlreichen Gemeinden hierarchischer Altgläubiger in Sibirien, die
zu Anfang dieses Jahrhunderts mehr als 150.000 Seelen zählten.

Der Staat verhielt sich zu allen diesen Sekten in der Zeit vor Peter dem
Großen ungefähr wie die spanische Inquisition, d. h. er verbrannte die Ras.
kvlniken, wo er ihrer habhaft werden konnte, oder ließ sie wenigstens "mit grau¬
samer Zähmung zähmen", mit andern Worten, sie so lange knuten, bis sie die
Bücher Nikons, das vierspitzige Kreuz und andere Neuerungen anzunehmen er¬
klärten. Peter verfuhr etwas milder. Er gab den Raskolniken wenigstens
das Recht bürgerlicher Existenz. Dagegen belegte er sie mit doppelter Kopf¬
steuer, ließ sie weder zu Gemeindeämtern, noch zu gerichtlichem Zeugniß zu.
verbot die Anlegung neuer Siedeleien, führte für alle Altgläubigen eine beson¬
dere Tracht ein, gestattete keine Ehen zwischen ihnen und Angehörigen der
Staatskirche und ließ sie ihre Barte versteuern. Die Kirche versuchte die Sek-
tirer zu bekehren und hatte sich dabei mancher Erfolge zu rühmen, indeß nur
bei den hierarchischen Gemeinden.

Unter Katharina der Zweiten wurde man noch milder. Die Raskolniken
erhielten freie Religionsübung, man ließ sie zu gerichtlichem Zeugniß zu, gab
ihnen die passive Wahlfähigkeit zu Gemeindeämtern und befreite sie von der
doppelten Kopfsteuer. Die Kirche erfüllte den Wunsch eines Theils der Sek-
tirer nach Geistlichen, welche, von einem ordentlichen Bischof geweiht, die Amts¬
handlungen nach den alten Büchern vollziehn sollten, und es kam um 1790
eine sogenannte Glaubensvcreinigung (Jedinowcrije) zu Stande, der sich eine
ziemliche Anzahl von altgläubigen Genossenschaften anschlössen, welche nun,
getrennt von den übrigen, eine Art Kirche in der Kirche bildeten.

Die große Mehrzahl der Raskolniken blieb diesen Vorgängen fremd; selbst
die hierarchischen hielten sich großentheils fern, und die popenlosen scheinen auf
eine Annäherung a" die Staatskirche so gut wie gar nicht eingegangen zu sein,

Seit Katharina hat sich die Gesetzgebung in Betreff des Raskol wenig
verändert; wo dies geschah, wurde sie nur wieder strenger, namentlich unter
Nikolaus, dessen Streben, alles vor seinem absoluten Willen gleich zu machen,
wiederholt dem toleranten Charakter der unter seinen Vorgängern crlaßncn
Gesetze Gewalt-anthat, ohne damit Wesentliches zu erreichen.



*) Städtchen im Gouvernement Tschernigow,

gierung zerstört wurden, die Siedeleien von Starodub*), die nach dieser
Zeit Hauptmittelpunkt der hierarchischen Sekten wurden, und wo sich bald neben
der Hauptkirche 17 andere Kirchen, 16 große Kapellen und 4 Klöster erhoben,
von denen das eine von mehr als 700 Nonnen bewohnt war, die Siedeleien
am Jrgis, einem nördlich von Saratow in die Wolga mündenden Flusse,
der Friedhof zu Rogosh, in Moskau, der die zu den Raskolniken über¬
tretenden russischen Popen einer neuen Firmung unterzieht, endlich die außer¬
ordentlich zahlreichen Gemeinden hierarchischer Altgläubiger in Sibirien, die
zu Anfang dieses Jahrhunderts mehr als 150.000 Seelen zählten.

Der Staat verhielt sich zu allen diesen Sekten in der Zeit vor Peter dem
Großen ungefähr wie die spanische Inquisition, d. h. er verbrannte die Ras.
kvlniken, wo er ihrer habhaft werden konnte, oder ließ sie wenigstens „mit grau¬
samer Zähmung zähmen", mit andern Worten, sie so lange knuten, bis sie die
Bücher Nikons, das vierspitzige Kreuz und andere Neuerungen anzunehmen er¬
klärten. Peter verfuhr etwas milder. Er gab den Raskolniken wenigstens
das Recht bürgerlicher Existenz. Dagegen belegte er sie mit doppelter Kopf¬
steuer, ließ sie weder zu Gemeindeämtern, noch zu gerichtlichem Zeugniß zu.
verbot die Anlegung neuer Siedeleien, führte für alle Altgläubigen eine beson¬
dere Tracht ein, gestattete keine Ehen zwischen ihnen und Angehörigen der
Staatskirche und ließ sie ihre Barte versteuern. Die Kirche versuchte die Sek-
tirer zu bekehren und hatte sich dabei mancher Erfolge zu rühmen, indeß nur
bei den hierarchischen Gemeinden.

Unter Katharina der Zweiten wurde man noch milder. Die Raskolniken
erhielten freie Religionsübung, man ließ sie zu gerichtlichem Zeugniß zu, gab
ihnen die passive Wahlfähigkeit zu Gemeindeämtern und befreite sie von der
doppelten Kopfsteuer. Die Kirche erfüllte den Wunsch eines Theils der Sek-
tirer nach Geistlichen, welche, von einem ordentlichen Bischof geweiht, die Amts¬
handlungen nach den alten Büchern vollziehn sollten, und es kam um 1790
eine sogenannte Glaubensvcreinigung (Jedinowcrije) zu Stande, der sich eine
ziemliche Anzahl von altgläubigen Genossenschaften anschlössen, welche nun,
getrennt von den übrigen, eine Art Kirche in der Kirche bildeten.

Die große Mehrzahl der Raskolniken blieb diesen Vorgängen fremd; selbst
die hierarchischen hielten sich großentheils fern, und die popenlosen scheinen auf
eine Annäherung a» die Staatskirche so gut wie gar nicht eingegangen zu sein,

Seit Katharina hat sich die Gesetzgebung in Betreff des Raskol wenig
verändert; wo dies geschah, wurde sie nur wieder strenger, namentlich unter
Nikolaus, dessen Streben, alles vor seinem absoluten Willen gleich zu machen,
wiederholt dem toleranten Charakter der unter seinen Vorgängern crlaßncn
Gesetze Gewalt-anthat, ohne damit Wesentliches zu erreichen.



*) Städtchen im Gouvernement Tschernigow,
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[0225] gierung zerstört wurden, die Siedeleien von Starodub*), die nach dieser Zeit Hauptmittelpunkt der hierarchischen Sekten wurden, und wo sich bald neben der Hauptkirche 17 andere Kirchen, 16 große Kapellen und 4 Klöster erhoben, von denen das eine von mehr als 700 Nonnen bewohnt war, die Siedeleien am Jrgis, einem nördlich von Saratow in die Wolga mündenden Flusse, der Friedhof zu Rogosh, in Moskau, der die zu den Raskolniken über¬ tretenden russischen Popen einer neuen Firmung unterzieht, endlich die außer¬ ordentlich zahlreichen Gemeinden hierarchischer Altgläubiger in Sibirien, die zu Anfang dieses Jahrhunderts mehr als 150.000 Seelen zählten. Der Staat verhielt sich zu allen diesen Sekten in der Zeit vor Peter dem Großen ungefähr wie die spanische Inquisition, d. h. er verbrannte die Ras. kvlniken, wo er ihrer habhaft werden konnte, oder ließ sie wenigstens „mit grau¬ samer Zähmung zähmen", mit andern Worten, sie so lange knuten, bis sie die Bücher Nikons, das vierspitzige Kreuz und andere Neuerungen anzunehmen er¬ klärten. Peter verfuhr etwas milder. Er gab den Raskolniken wenigstens das Recht bürgerlicher Existenz. Dagegen belegte er sie mit doppelter Kopf¬ steuer, ließ sie weder zu Gemeindeämtern, noch zu gerichtlichem Zeugniß zu. verbot die Anlegung neuer Siedeleien, führte für alle Altgläubigen eine beson¬ dere Tracht ein, gestattete keine Ehen zwischen ihnen und Angehörigen der Staatskirche und ließ sie ihre Barte versteuern. Die Kirche versuchte die Sek- tirer zu bekehren und hatte sich dabei mancher Erfolge zu rühmen, indeß nur bei den hierarchischen Gemeinden. Unter Katharina der Zweiten wurde man noch milder. Die Raskolniken erhielten freie Religionsübung, man ließ sie zu gerichtlichem Zeugniß zu, gab ihnen die passive Wahlfähigkeit zu Gemeindeämtern und befreite sie von der doppelten Kopfsteuer. Die Kirche erfüllte den Wunsch eines Theils der Sek- tirer nach Geistlichen, welche, von einem ordentlichen Bischof geweiht, die Amts¬ handlungen nach den alten Büchern vollziehn sollten, und es kam um 1790 eine sogenannte Glaubensvcreinigung (Jedinowcrije) zu Stande, der sich eine ziemliche Anzahl von altgläubigen Genossenschaften anschlössen, welche nun, getrennt von den übrigen, eine Art Kirche in der Kirche bildeten. Die große Mehrzahl der Raskolniken blieb diesen Vorgängen fremd; selbst die hierarchischen hielten sich großentheils fern, und die popenlosen scheinen auf eine Annäherung a» die Staatskirche so gut wie gar nicht eingegangen zu sein, Seit Katharina hat sich die Gesetzgebung in Betreff des Raskol wenig verändert; wo dies geschah, wurde sie nur wieder strenger, namentlich unter Nikolaus, dessen Streben, alles vor seinem absoluten Willen gleich zu machen, wiederholt dem toleranten Charakter der unter seinen Vorgängern crlaßncn Gesetze Gewalt-anthat, ohne damit Wesentliches zu erreichen. *) Städtchen im Gouvernement Tschernigow,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/225>, abgerufen am 24.07.2024.