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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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den oft sehr bedeutenden Spenden, welche reiche Mitglieder der Sekte dar¬
bringen, untergebracht. Die Herberge gebenden Christen treten, wenn nicht
früher, jedenfalls bei zunehmendem Alter förmlich in die Classe der Wanderer
ein; überrascht sie schwere Krankheit, so lassen sie sich in den Wald oder aus
das freie Feld hinaustragen, um, wenn auch in der Nähe ihrer Wohnung,
doch als Wanderer und "auf der Flucht vor dem Antichrist" zu sterben. Die
Sekte ist namentlich in den Gouvernements Jaroslaw, Kostroma und Twer
sowie in Sibirien sehr verbreitet.

Außer diesen größeren Lehrgemeinschaften gibt es noch eine ziemliche An¬
zahl popenloser Raskolniken, welche kleinere Gemeinden bilden und weniger
bekannt sind. Dahin gehören unter andern: die adamantische Sekte, deren
Mitglieder nicht auf gepflasterter Straße gehen, da diese Einrichtung in der
Zeit des Antichrists entstanden ist, und kein russisches Geld gebrauchen, weil
der darauf abgebildete heilige Georg mit dem Lindwurm das Siegel des Anti¬
christs sein soll. Dann die Spassowo Ssoglassija oder Heilandssckte,
welche gar keine Sakramente anerkennt, da der Heiland auch ohne diese Er¬
lösung bringen könne. Ferner die Ssamotreschtsch enzi oder Selbsttäuser,
die sich uicht mit der Taufe in der russischen Kirche oder der Neutaufe der
popenlvsen Sekten begnügen, sondern "zur vollständige" Reinigung" noch eine
Selbstläufe in Bächen und Quellen vollziehen, die Stoptsy, welche es für
gottgefällig halten, sich in der Weise des Origenes zu verstümmeln und beson¬
ders in Südrußland und Transkaukasien viele Anhänger zählen, die Stepha¬
nien, welche die Ehe verwerfen, die Unzucht als "heilige Liebe" proclamiren
und die aus der Anwendung dieses Grundsatzes hervorgegangenen Kinder in
Wäldern aussetzen, endlich die Rasini, die sich am grünen Donnerstag, als
dem Einsetzungstag des Abendmahls versammeln und mit weitgeöffnetem Munde
warten, daß ihnen die Engel die Hostie hineintragen.

Ueber die hierarchischen Sekten des Naskol können wir kürzer sein.
Die wichtigsten waren folgende: Die siedete im am Kershenez, einem
Nebenfluß der Wolga, wo der Mönch Onuphrius zahlreiche Gläubige zu einem
Glaubensbekenntniß sammelte, in welchem eine Dreieinigkeit von drei beson¬
dern Wesen, den drei Hinunelstönigen, aufgestellt war, neben denen Christus
als ein vierter Gott stand, und welches die Selbstverbrennung und den Hunger¬
tod für den Glauben lebhaft empfahl. Sodann die Raskolniken am Don
und Kuban, aus deren Mitte un vorigen Jahrhundert zahlreiche Aufstände
und Rauöznge, wie die der Kosaken Nekrassow und Pugatschcw, hervorgingen.
Ferner die Sicdeleien der Wctka-Jnsel im Gouvernement Mvhilew. welche
im vorigen Jahrhundert, von mehr als 40,000 Altgläubigen bewohnt, um der
Spitze sämmtlicher hierarchischen Raskolniken standen, aber 1764 von der Re-


den oft sehr bedeutenden Spenden, welche reiche Mitglieder der Sekte dar¬
bringen, untergebracht. Die Herberge gebenden Christen treten, wenn nicht
früher, jedenfalls bei zunehmendem Alter förmlich in die Classe der Wanderer
ein; überrascht sie schwere Krankheit, so lassen sie sich in den Wald oder aus
das freie Feld hinaustragen, um, wenn auch in der Nähe ihrer Wohnung,
doch als Wanderer und „auf der Flucht vor dem Antichrist" zu sterben. Die
Sekte ist namentlich in den Gouvernements Jaroslaw, Kostroma und Twer
sowie in Sibirien sehr verbreitet.

Außer diesen größeren Lehrgemeinschaften gibt es noch eine ziemliche An¬
zahl popenloser Raskolniken, welche kleinere Gemeinden bilden und weniger
bekannt sind. Dahin gehören unter andern: die adamantische Sekte, deren
Mitglieder nicht auf gepflasterter Straße gehen, da diese Einrichtung in der
Zeit des Antichrists entstanden ist, und kein russisches Geld gebrauchen, weil
der darauf abgebildete heilige Georg mit dem Lindwurm das Siegel des Anti¬
christs sein soll. Dann die Spassowo Ssoglassija oder Heilandssckte,
welche gar keine Sakramente anerkennt, da der Heiland auch ohne diese Er¬
lösung bringen könne. Ferner die Ssamotreschtsch enzi oder Selbsttäuser,
die sich uicht mit der Taufe in der russischen Kirche oder der Neutaufe der
popenlvsen Sekten begnügen, sondern „zur vollständige» Reinigung" noch eine
Selbstläufe in Bächen und Quellen vollziehen, die Stoptsy, welche es für
gottgefällig halten, sich in der Weise des Origenes zu verstümmeln und beson¬
ders in Südrußland und Transkaukasien viele Anhänger zählen, die Stepha¬
nien, welche die Ehe verwerfen, die Unzucht als „heilige Liebe" proclamiren
und die aus der Anwendung dieses Grundsatzes hervorgegangenen Kinder in
Wäldern aussetzen, endlich die Rasini, die sich am grünen Donnerstag, als
dem Einsetzungstag des Abendmahls versammeln und mit weitgeöffnetem Munde
warten, daß ihnen die Engel die Hostie hineintragen.

Ueber die hierarchischen Sekten des Naskol können wir kürzer sein.
Die wichtigsten waren folgende: Die siedete im am Kershenez, einem
Nebenfluß der Wolga, wo der Mönch Onuphrius zahlreiche Gläubige zu einem
Glaubensbekenntniß sammelte, in welchem eine Dreieinigkeit von drei beson¬
dern Wesen, den drei Hinunelstönigen, aufgestellt war, neben denen Christus
als ein vierter Gott stand, und welches die Selbstverbrennung und den Hunger¬
tod für den Glauben lebhaft empfahl. Sodann die Raskolniken am Don
und Kuban, aus deren Mitte un vorigen Jahrhundert zahlreiche Aufstände
und Rauöznge, wie die der Kosaken Nekrassow und Pugatschcw, hervorgingen.
Ferner die Sicdeleien der Wctka-Jnsel im Gouvernement Mvhilew. welche
im vorigen Jahrhundert, von mehr als 40,000 Altgläubigen bewohnt, um der
Spitze sämmtlicher hierarchischen Raskolniken standen, aber 1764 von der Re-


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[0224] den oft sehr bedeutenden Spenden, welche reiche Mitglieder der Sekte dar¬ bringen, untergebracht. Die Herberge gebenden Christen treten, wenn nicht früher, jedenfalls bei zunehmendem Alter förmlich in die Classe der Wanderer ein; überrascht sie schwere Krankheit, so lassen sie sich in den Wald oder aus das freie Feld hinaustragen, um, wenn auch in der Nähe ihrer Wohnung, doch als Wanderer und „auf der Flucht vor dem Antichrist" zu sterben. Die Sekte ist namentlich in den Gouvernements Jaroslaw, Kostroma und Twer sowie in Sibirien sehr verbreitet. Außer diesen größeren Lehrgemeinschaften gibt es noch eine ziemliche An¬ zahl popenloser Raskolniken, welche kleinere Gemeinden bilden und weniger bekannt sind. Dahin gehören unter andern: die adamantische Sekte, deren Mitglieder nicht auf gepflasterter Straße gehen, da diese Einrichtung in der Zeit des Antichrists entstanden ist, und kein russisches Geld gebrauchen, weil der darauf abgebildete heilige Georg mit dem Lindwurm das Siegel des Anti¬ christs sein soll. Dann die Spassowo Ssoglassija oder Heilandssckte, welche gar keine Sakramente anerkennt, da der Heiland auch ohne diese Er¬ lösung bringen könne. Ferner die Ssamotreschtsch enzi oder Selbsttäuser, die sich uicht mit der Taufe in der russischen Kirche oder der Neutaufe der popenlvsen Sekten begnügen, sondern „zur vollständige» Reinigung" noch eine Selbstläufe in Bächen und Quellen vollziehen, die Stoptsy, welche es für gottgefällig halten, sich in der Weise des Origenes zu verstümmeln und beson¬ ders in Südrußland und Transkaukasien viele Anhänger zählen, die Stepha¬ nien, welche die Ehe verwerfen, die Unzucht als „heilige Liebe" proclamiren und die aus der Anwendung dieses Grundsatzes hervorgegangenen Kinder in Wäldern aussetzen, endlich die Rasini, die sich am grünen Donnerstag, als dem Einsetzungstag des Abendmahls versammeln und mit weitgeöffnetem Munde warten, daß ihnen die Engel die Hostie hineintragen. Ueber die hierarchischen Sekten des Naskol können wir kürzer sein. Die wichtigsten waren folgende: Die siedete im am Kershenez, einem Nebenfluß der Wolga, wo der Mönch Onuphrius zahlreiche Gläubige zu einem Glaubensbekenntniß sammelte, in welchem eine Dreieinigkeit von drei beson¬ dern Wesen, den drei Hinunelstönigen, aufgestellt war, neben denen Christus als ein vierter Gott stand, und welches die Selbstverbrennung und den Hunger¬ tod für den Glauben lebhaft empfahl. Sodann die Raskolniken am Don und Kuban, aus deren Mitte un vorigen Jahrhundert zahlreiche Aufstände und Rauöznge, wie die der Kosaken Nekrassow und Pugatschcw, hervorgingen. Ferner die Sicdeleien der Wctka-Jnsel im Gouvernement Mvhilew. welche im vorigen Jahrhundert, von mehr als 40,000 Altgläubigen bewohnt, um der Spitze sämmtlicher hierarchischen Raskolniken standen, aber 1764 von der Re-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/224>, abgerufen am 24.07.2024.