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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Wir kehren zu Fürst Dolgorukow zurück. Derselbe gibt zu. daß die Re¬
gierung gewisse Raskolnikensekten als gemeinschädlich und die Existenz von Staat
und bürgerlicher Gesellschaft bedrohend, zu unterdrücken habe, während andere
zu dulden und durch größere Zugeständnisse zu gewinnen seien. Aber während
die gefährlichen, sagt er, trotz der Feindschaft der Negierung gegen sie, von
der Käuflichkeit einer bestochnen Polizei*) geschützt, nicht nur fortbestehn, son¬
dern sich im letzten halben Jahrhundert außerordentlich vermehrt haben, werden
den ungefährlichen noch immer die ihnen gebührenden Rechte vorenthalten, und
noch immer sind sie gelegentlichen Verfolgungen und Mißhandlungen ausgesetzt.
Die letzteren leben, wie die meisten Altgläubigen, ein zurückgezognes, nüchter¬
nes, sparsames Leben. Sie besitzen in Folge ihrer Gewohnheiten meist Ver¬
mögen, manche sogar sind sehr reich. Fanatisch geworden durch den steten
Kampf für ihre Ideen, wenden sie den größten Theil ihres erworbnen Geldes
auf die Ausbreitung ihres Glaubens, nehmen flüchtige Leibeigne, Deserteure.
Criminalverbrecher, selbst Mörder bei sich auf. verbergen, nähren und fördern
sie, unter der einzigen Bedingung, daß sie dem Raskol beitreten. So ist es
gekommen, daß die Zahl der Altgläubigen in Rußland jetzt auf ungefähr neun
Millionen Seelen veranschlagt werden kann, was den siebenten Theil der Be¬
völkerung des Reichs ausmacht. Diese Anzahl mehrt sich täglich, und sie wird
fortfahre", sich zu mehren, so lange sich das Reich nicht einer regelrechten,
wirklich civilisirten Regierung erfreut. Wie die Sachen stehn, kennt die Po¬
lizei nicht blos die Verstecke der von den Altgläubigen beschützten gemeinschäd¬
lichem Individuen, sondern die Behörden beneiden sogar diejenigen von ihren
Amtsgenossen, welche deren recht viele in ihrem Bereich haben, da dieselben
für sie eine Quelle reicher Einnahmen sind. "Ist der N. N. glücklich, daß er
bei sich so viele Starowerzi hat," kann man häusig die Tschinowniks sagen
hören.

Im Jahre 1844 benutzte Oestreich diese Zustände, um einen geschickten
Schachzug gegen Rußland zu thun. Die Altgläubigen hatten schon längst nach
Bischöfen und einem Erzbischof gestrebt. Hätte die russische Negierung damals
ihr Interesse begriffen, so würde sie auf ihr Verlangen eingegangen sein und.
indem sie durch das Zugeständnis) religiöser Autonomie eine vollständige Ver¬
söhnung herbeigeführt hätte, das Mittel in die Hand bekommen haben, auf
diesen Theil der Bevölkerung durch jene geistlichen Würdenträger Einfluß zu
üben, die Sekten an das Tageslicht treten zu lassen und sie zu beobachten.
Dies war schon Potemkins Plan, und in neuerer Zeit sprach sich dafür nament¬
lich der Erzbischof von Cherson und Tannen Jnnocent lebhaft aus. Die Re¬
gierung verkannte ihren Vortheil, sie gewährte jenen Wunsch nicht. Inzwischen



") Man lese Saltikows "Skizzen aus dem russischen Provinzialleben", deutsch von A. Meck¬
lenburg. 2 Thlr. Berlin, Springer, 1860.

Wir kehren zu Fürst Dolgorukow zurück. Derselbe gibt zu. daß die Re¬
gierung gewisse Raskolnikensekten als gemeinschädlich und die Existenz von Staat
und bürgerlicher Gesellschaft bedrohend, zu unterdrücken habe, während andere
zu dulden und durch größere Zugeständnisse zu gewinnen seien. Aber während
die gefährlichen, sagt er, trotz der Feindschaft der Negierung gegen sie, von
der Käuflichkeit einer bestochnen Polizei*) geschützt, nicht nur fortbestehn, son¬
dern sich im letzten halben Jahrhundert außerordentlich vermehrt haben, werden
den ungefährlichen noch immer die ihnen gebührenden Rechte vorenthalten, und
noch immer sind sie gelegentlichen Verfolgungen und Mißhandlungen ausgesetzt.
Die letzteren leben, wie die meisten Altgläubigen, ein zurückgezognes, nüchter¬
nes, sparsames Leben. Sie besitzen in Folge ihrer Gewohnheiten meist Ver¬
mögen, manche sogar sind sehr reich. Fanatisch geworden durch den steten
Kampf für ihre Ideen, wenden sie den größten Theil ihres erworbnen Geldes
auf die Ausbreitung ihres Glaubens, nehmen flüchtige Leibeigne, Deserteure.
Criminalverbrecher, selbst Mörder bei sich auf. verbergen, nähren und fördern
sie, unter der einzigen Bedingung, daß sie dem Raskol beitreten. So ist es
gekommen, daß die Zahl der Altgläubigen in Rußland jetzt auf ungefähr neun
Millionen Seelen veranschlagt werden kann, was den siebenten Theil der Be¬
völkerung des Reichs ausmacht. Diese Anzahl mehrt sich täglich, und sie wird
fortfahre», sich zu mehren, so lange sich das Reich nicht einer regelrechten,
wirklich civilisirten Regierung erfreut. Wie die Sachen stehn, kennt die Po¬
lizei nicht blos die Verstecke der von den Altgläubigen beschützten gemeinschäd¬
lichem Individuen, sondern die Behörden beneiden sogar diejenigen von ihren
Amtsgenossen, welche deren recht viele in ihrem Bereich haben, da dieselben
für sie eine Quelle reicher Einnahmen sind. „Ist der N. N. glücklich, daß er
bei sich so viele Starowerzi hat," kann man häusig die Tschinowniks sagen
hören.

Im Jahre 1844 benutzte Oestreich diese Zustände, um einen geschickten
Schachzug gegen Rußland zu thun. Die Altgläubigen hatten schon längst nach
Bischöfen und einem Erzbischof gestrebt. Hätte die russische Negierung damals
ihr Interesse begriffen, so würde sie auf ihr Verlangen eingegangen sein und.
indem sie durch das Zugeständnis) religiöser Autonomie eine vollständige Ver¬
söhnung herbeigeführt hätte, das Mittel in die Hand bekommen haben, auf
diesen Theil der Bevölkerung durch jene geistlichen Würdenträger Einfluß zu
üben, die Sekten an das Tageslicht treten zu lassen und sie zu beobachten.
Dies war schon Potemkins Plan, und in neuerer Zeit sprach sich dafür nament¬
lich der Erzbischof von Cherson und Tannen Jnnocent lebhaft aus. Die Re¬
gierung verkannte ihren Vortheil, sie gewährte jenen Wunsch nicht. Inzwischen



") Man lese Saltikows „Skizzen aus dem russischen Provinzialleben", deutsch von A. Meck¬
lenburg. 2 Thlr. Berlin, Springer, 1860.
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[0226] Wir kehren zu Fürst Dolgorukow zurück. Derselbe gibt zu. daß die Re¬ gierung gewisse Raskolnikensekten als gemeinschädlich und die Existenz von Staat und bürgerlicher Gesellschaft bedrohend, zu unterdrücken habe, während andere zu dulden und durch größere Zugeständnisse zu gewinnen seien. Aber während die gefährlichen, sagt er, trotz der Feindschaft der Negierung gegen sie, von der Käuflichkeit einer bestochnen Polizei*) geschützt, nicht nur fortbestehn, son¬ dern sich im letzten halben Jahrhundert außerordentlich vermehrt haben, werden den ungefährlichen noch immer die ihnen gebührenden Rechte vorenthalten, und noch immer sind sie gelegentlichen Verfolgungen und Mißhandlungen ausgesetzt. Die letzteren leben, wie die meisten Altgläubigen, ein zurückgezognes, nüchter¬ nes, sparsames Leben. Sie besitzen in Folge ihrer Gewohnheiten meist Ver¬ mögen, manche sogar sind sehr reich. Fanatisch geworden durch den steten Kampf für ihre Ideen, wenden sie den größten Theil ihres erworbnen Geldes auf die Ausbreitung ihres Glaubens, nehmen flüchtige Leibeigne, Deserteure. Criminalverbrecher, selbst Mörder bei sich auf. verbergen, nähren und fördern sie, unter der einzigen Bedingung, daß sie dem Raskol beitreten. So ist es gekommen, daß die Zahl der Altgläubigen in Rußland jetzt auf ungefähr neun Millionen Seelen veranschlagt werden kann, was den siebenten Theil der Be¬ völkerung des Reichs ausmacht. Diese Anzahl mehrt sich täglich, und sie wird fortfahre», sich zu mehren, so lange sich das Reich nicht einer regelrechten, wirklich civilisirten Regierung erfreut. Wie die Sachen stehn, kennt die Po¬ lizei nicht blos die Verstecke der von den Altgläubigen beschützten gemeinschäd¬ lichem Individuen, sondern die Behörden beneiden sogar diejenigen von ihren Amtsgenossen, welche deren recht viele in ihrem Bereich haben, da dieselben für sie eine Quelle reicher Einnahmen sind. „Ist der N. N. glücklich, daß er bei sich so viele Starowerzi hat," kann man häusig die Tschinowniks sagen hören. Im Jahre 1844 benutzte Oestreich diese Zustände, um einen geschickten Schachzug gegen Rußland zu thun. Die Altgläubigen hatten schon längst nach Bischöfen und einem Erzbischof gestrebt. Hätte die russische Negierung damals ihr Interesse begriffen, so würde sie auf ihr Verlangen eingegangen sein und. indem sie durch das Zugeständnis) religiöser Autonomie eine vollständige Ver¬ söhnung herbeigeführt hätte, das Mittel in die Hand bekommen haben, auf diesen Theil der Bevölkerung durch jene geistlichen Würdenträger Einfluß zu üben, die Sekten an das Tageslicht treten zu lassen und sie zu beobachten. Dies war schon Potemkins Plan, und in neuerer Zeit sprach sich dafür nament¬ lich der Erzbischof von Cherson und Tannen Jnnocent lebhaft aus. Die Re¬ gierung verkannte ihren Vortheil, sie gewährte jenen Wunsch nicht. Inzwischen ") Man lese Saltikows „Skizzen aus dem russischen Provinzialleben", deutsch von A. Meck¬ lenburg. 2 Thlr. Berlin, Springer, 1860.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/226>, abgerufen am 24.07.2024.