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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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halten. Von einem zu der Sekte Uebertretenden wird daher vor allen Dingen
erfordert, daß er seiner Gemeinde entlaufe, sodann, daß er seine Paßkarte,
seinen Heimatöschein und alle sonstigen obrigkeitlichen Zeugnisse als Einrich¬
tungen des Antichrists in das Feuer werfe, endlich, daß er sich noch einmal
taufen lasse. Die Wanderer zahlen sich selbst zum Mönchöstande, nennen sich
Brüder und Schwestern, genießen nnr Fastenspeisen, niemals Fleisch, und be¬
obachten die alte Regel des Ssowoletzkischen Klosters. Sie verlangen ferner
unbedingte Keuschheit. Die Ehe wird von ihnen gänzlich verworfen, ja sie
wird mit Konsequenz für straffälliger und sündhafter gehalten als das wilde
Zusammenleben der Geschlechter. Denn, sagen sie, die Vermischung in der
Ehe wird von den Dienern des Antichrists nicht verurtheilt, die außer der Ehe
aber wird verurtheilt. Also muß jene ganz gottlos sein, während diese nur
eine Schwachheitssünde ist, die mit strengem Fasten und einer Reihe von Ver¬
beugungen abgebüßt werden kann. Alles trägt bei den Wanderern den Cha¬
rakter der Heimlichkeit und Verborgenheit. Selbst die Bestattung ihrer Leichen
findet bei Nacht und im Walde oder an einem wüsten Orte statt.

Die Sekte verwirft als eine popcnlose alle Hierarchie; es werden indeß
Aelteste oder Vorsteher aus beiden Geschlechtern gewählt, welche die heiligen
Bücher auslegen, den Gottesdienst in den Kapellen abzuhalten und Taufe,
Beichte und Bestattung zu vollziehen, sowie etwaige Streitigkeiten zu schlichten
haben. Nicht blos die russische Staatskirche, sondern auch die Mehrzahl der
Sekten gelten den Wanderern als ketzerisch, weil sie sich der Staatsgewalt
fügen, sich den Volkszählungen unterziehen, die öffentlichen Lasten und Steu¬
ern tragen, für den Czaren beten, Pässe und Heimatsscheine gebrauchen, in
den Kriegsdienst treten und sich überhaupt zu Handlungen herbeilassen, welche
einer Anerkennung vom Staat und Kirche gleichen. Der Wanderer kennt
diese letztern nicht, lebt nicht in ihnen und überhaupt nicht in der "Welt".

Die erwähnten "Herberge gebenden Christen" sind eine Art Prüfungs¬
classe. Zu ihr gehören alle die, welche, den Meinungen der Stranniki zugethan,
sich zur Aufnahme unter sie vorbereiten und während ihres "letzten Aufent¬
halts in der Welt" die eigentlichen Wanderer bei sich aufnehmen. Da sie
noch unter der Gewalt des Antichrists seufzen, so ist ihnen gestattet, sich in
die Bevölkerungslisten als Raskolniken eintragen zu lassen. Häusig geben sie
sich auch für Rechtgläubige, d. h. Angehörige der Staatskirche aus, da ihnen
so das Verstecken ihrer Meinungsgenossen leichter wird. Sie zahlen ihre
Steuern, bleiben in ihren Häusern und Familien, lösen ihre Ehen nicht auf
und verletzen überhaupt äußerlich die bestehende Ordnung nicht. Zur Auf¬
nahme der Wanderer werden in ihren Häusern, gewöhnlich im Erdgeschosse,
heimliche Kammern eingerichtet. Dort wird alles Eigenthum der Wanderer,
das sie bei ihrer Flucht aus der Heimatsgemeinde mit sich genommen, sammt


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halten. Von einem zu der Sekte Uebertretenden wird daher vor allen Dingen
erfordert, daß er seiner Gemeinde entlaufe, sodann, daß er seine Paßkarte,
seinen Heimatöschein und alle sonstigen obrigkeitlichen Zeugnisse als Einrich¬
tungen des Antichrists in das Feuer werfe, endlich, daß er sich noch einmal
taufen lasse. Die Wanderer zahlen sich selbst zum Mönchöstande, nennen sich
Brüder und Schwestern, genießen nnr Fastenspeisen, niemals Fleisch, und be¬
obachten die alte Regel des Ssowoletzkischen Klosters. Sie verlangen ferner
unbedingte Keuschheit. Die Ehe wird von ihnen gänzlich verworfen, ja sie
wird mit Konsequenz für straffälliger und sündhafter gehalten als das wilde
Zusammenleben der Geschlechter. Denn, sagen sie, die Vermischung in der
Ehe wird von den Dienern des Antichrists nicht verurtheilt, die außer der Ehe
aber wird verurtheilt. Also muß jene ganz gottlos sein, während diese nur
eine Schwachheitssünde ist, die mit strengem Fasten und einer Reihe von Ver¬
beugungen abgebüßt werden kann. Alles trägt bei den Wanderern den Cha¬
rakter der Heimlichkeit und Verborgenheit. Selbst die Bestattung ihrer Leichen
findet bei Nacht und im Walde oder an einem wüsten Orte statt.

Die Sekte verwirft als eine popcnlose alle Hierarchie; es werden indeß
Aelteste oder Vorsteher aus beiden Geschlechtern gewählt, welche die heiligen
Bücher auslegen, den Gottesdienst in den Kapellen abzuhalten und Taufe,
Beichte und Bestattung zu vollziehen, sowie etwaige Streitigkeiten zu schlichten
haben. Nicht blos die russische Staatskirche, sondern auch die Mehrzahl der
Sekten gelten den Wanderern als ketzerisch, weil sie sich der Staatsgewalt
fügen, sich den Volkszählungen unterziehen, die öffentlichen Lasten und Steu¬
ern tragen, für den Czaren beten, Pässe und Heimatsscheine gebrauchen, in
den Kriegsdienst treten und sich überhaupt zu Handlungen herbeilassen, welche
einer Anerkennung vom Staat und Kirche gleichen. Der Wanderer kennt
diese letztern nicht, lebt nicht in ihnen und überhaupt nicht in der „Welt".

Die erwähnten „Herberge gebenden Christen" sind eine Art Prüfungs¬
classe. Zu ihr gehören alle die, welche, den Meinungen der Stranniki zugethan,
sich zur Aufnahme unter sie vorbereiten und während ihres „letzten Aufent¬
halts in der Welt" die eigentlichen Wanderer bei sich aufnehmen. Da sie
noch unter der Gewalt des Antichrists seufzen, so ist ihnen gestattet, sich in
die Bevölkerungslisten als Raskolniken eintragen zu lassen. Häusig geben sie
sich auch für Rechtgläubige, d. h. Angehörige der Staatskirche aus, da ihnen
so das Verstecken ihrer Meinungsgenossen leichter wird. Sie zahlen ihre
Steuern, bleiben in ihren Häusern und Familien, lösen ihre Ehen nicht auf
und verletzen überhaupt äußerlich die bestehende Ordnung nicht. Zur Auf¬
nahme der Wanderer werden in ihren Häusern, gewöhnlich im Erdgeschosse,
heimliche Kammern eingerichtet. Dort wird alles Eigenthum der Wanderer,
das sie bei ihrer Flucht aus der Heimatsgemeinde mit sich genommen, sammt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/223>, abgerufen am 24.07.2024.