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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Ebenfalls Fanatiker der wüstesten Art waren die aus einem Zerwürfnis!
unter den Vorstehern des pomoränischen Wygklosters hervorgegangnen, beson¬
ders um Archangel und in Finnland verbreiteten Philipponen oder Fili-
powzi. Sie verwarfen das "Titlo", d. h. die Aufschrift auf dem Cruzifix
gänzlich, verschmähten es, für den Kaiser zu beten, trauten die zu ihnen
übertretenden Ehepaare noch einmal, "zu reinem Leben als Brüder und Schwe¬
stern," und übertrafen in ihrem Eifer für das Märtyrerthum der Selbst¬
verbrennung und des freiwilligen Hungertodes alle andern Sekten der Ras-
kolniken.

In vielen Beziehungen mit den Philivponen verwandt ist die höchst
eigenthümliche, noch jetzt ungemein verbreitete und durch ihre Grundsätze im
äußersten Grade subversive Sekte der Wanderer, russisch Stranniki, Skitalzi
oder auch Beguni genannt. Ihr Stifter Evthymius, ursprünglich der mos¬
kauer Philipponengemeinde angehörig, dann verrathen und unter die Soldaten
gesteckt, aus seinem Regiment entwichen und zum Mönch tousurirt, wurde von
den Vätern der Philipponen mit einer Botschaft nach dem Wyg gesandt. Ein
Meinungsstreit mit den dortigen Danieliten, in welchem bei seiner Rückkehr
nach Moskau seine eignen Sektengenossen ihm Unrecht gaben, wurde für ihn
Veranlassung zum Austritt aus der Gemeinde. Er siedelte nach dem Dorfe
Ssopelki im Gouvernement Jaroslaw über, wo er im Jahr 1781 die Wandrer-
Sekte stiftete und in einer Reihe von Schriften die Grundsätze derselben er¬
läuterte.

Nach der Lehre des Evthymius und seiner Jünger ist der Antichrist nicht
allein im Geiste, sondern auch sichtlich für leibliche Augen auf Erden er¬
schienen, und sein Zeichen ist nicht das Dreisingerkreuz, sondern die Unterord¬
nung unter die Fürsten und Obrigkeiten, die seine Diener sind. Der einzige
Weg zum Heile ist also, nicht nur der Staatskirche, sondern auch dem Staate
selbst fern zu bleiben und weder den Czaren noch irgend eine andere Gewalt
auf Erden über sich anzuerkennen. Da indeß ein Kampf mit diesen Ge¬
walten unmöglich ist, so bleibt nur übrig, vor der Herrschaft des Antichrists
zu fliehen, von der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und allen sonstigen
politischen und socialen Einrichtungen sich lossagend in Wäldern und Wüsten¬
eien umherzuschweifen. Daher der Name. Die Mitglieder der Sekte zer¬
fallen in zwei Classen: eigentliche Wanderer (Stranniki) und "Herberge gebende
Christen" (Shilowije Christiane) oder Asylgeber (Straunopriimzi). Als wirk¬
liche Wanderer gelten nur diejenigen, die nach Zerreißung aller gesellschaftlichen
und Familienbande von Ort zu Ort umherziehn, in Wäldern und Steppe"
oder auch -- dann aber immer nur heimlich -- in Städten und Dörfern sich
aushalten, und die ein solches unablässiges Wandern in dieser bösen Zeit der
Herrschaft des Antichrists für das alleinige Mittel zur Rettung der Seelen


Ebenfalls Fanatiker der wüstesten Art waren die aus einem Zerwürfnis!
unter den Vorstehern des pomoränischen Wygklosters hervorgegangnen, beson¬
ders um Archangel und in Finnland verbreiteten Philipponen oder Fili-
powzi. Sie verwarfen das „Titlo", d. h. die Aufschrift auf dem Cruzifix
gänzlich, verschmähten es, für den Kaiser zu beten, trauten die zu ihnen
übertretenden Ehepaare noch einmal, „zu reinem Leben als Brüder und Schwe¬
stern," und übertrafen in ihrem Eifer für das Märtyrerthum der Selbst¬
verbrennung und des freiwilligen Hungertodes alle andern Sekten der Ras-
kolniken.

In vielen Beziehungen mit den Philivponen verwandt ist die höchst
eigenthümliche, noch jetzt ungemein verbreitete und durch ihre Grundsätze im
äußersten Grade subversive Sekte der Wanderer, russisch Stranniki, Skitalzi
oder auch Beguni genannt. Ihr Stifter Evthymius, ursprünglich der mos¬
kauer Philipponengemeinde angehörig, dann verrathen und unter die Soldaten
gesteckt, aus seinem Regiment entwichen und zum Mönch tousurirt, wurde von
den Vätern der Philipponen mit einer Botschaft nach dem Wyg gesandt. Ein
Meinungsstreit mit den dortigen Danieliten, in welchem bei seiner Rückkehr
nach Moskau seine eignen Sektengenossen ihm Unrecht gaben, wurde für ihn
Veranlassung zum Austritt aus der Gemeinde. Er siedelte nach dem Dorfe
Ssopelki im Gouvernement Jaroslaw über, wo er im Jahr 1781 die Wandrer-
Sekte stiftete und in einer Reihe von Schriften die Grundsätze derselben er¬
läuterte.

Nach der Lehre des Evthymius und seiner Jünger ist der Antichrist nicht
allein im Geiste, sondern auch sichtlich für leibliche Augen auf Erden er¬
schienen, und sein Zeichen ist nicht das Dreisingerkreuz, sondern die Unterord¬
nung unter die Fürsten und Obrigkeiten, die seine Diener sind. Der einzige
Weg zum Heile ist also, nicht nur der Staatskirche, sondern auch dem Staate
selbst fern zu bleiben und weder den Czaren noch irgend eine andere Gewalt
auf Erden über sich anzuerkennen. Da indeß ein Kampf mit diesen Ge¬
walten unmöglich ist, so bleibt nur übrig, vor der Herrschaft des Antichrists
zu fliehen, von der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und allen sonstigen
politischen und socialen Einrichtungen sich lossagend in Wäldern und Wüsten¬
eien umherzuschweifen. Daher der Name. Die Mitglieder der Sekte zer¬
fallen in zwei Classen: eigentliche Wanderer (Stranniki) und „Herberge gebende
Christen" (Shilowije Christiane) oder Asylgeber (Straunopriimzi). Als wirk¬
liche Wanderer gelten nur diejenigen, die nach Zerreißung aller gesellschaftlichen
und Familienbande von Ort zu Ort umherziehn, in Wäldern und Steppe»
oder auch — dann aber immer nur heimlich — in Städten und Dörfern sich
aushalten, und die ein solches unablässiges Wandern in dieser bösen Zeit der
Herrschaft des Antichrists für das alleinige Mittel zur Rettung der Seelen


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[0222] Ebenfalls Fanatiker der wüstesten Art waren die aus einem Zerwürfnis! unter den Vorstehern des pomoränischen Wygklosters hervorgegangnen, beson¬ ders um Archangel und in Finnland verbreiteten Philipponen oder Fili- powzi. Sie verwarfen das „Titlo", d. h. die Aufschrift auf dem Cruzifix gänzlich, verschmähten es, für den Kaiser zu beten, trauten die zu ihnen übertretenden Ehepaare noch einmal, „zu reinem Leben als Brüder und Schwe¬ stern," und übertrafen in ihrem Eifer für das Märtyrerthum der Selbst¬ verbrennung und des freiwilligen Hungertodes alle andern Sekten der Ras- kolniken. In vielen Beziehungen mit den Philivponen verwandt ist die höchst eigenthümliche, noch jetzt ungemein verbreitete und durch ihre Grundsätze im äußersten Grade subversive Sekte der Wanderer, russisch Stranniki, Skitalzi oder auch Beguni genannt. Ihr Stifter Evthymius, ursprünglich der mos¬ kauer Philipponengemeinde angehörig, dann verrathen und unter die Soldaten gesteckt, aus seinem Regiment entwichen und zum Mönch tousurirt, wurde von den Vätern der Philipponen mit einer Botschaft nach dem Wyg gesandt. Ein Meinungsstreit mit den dortigen Danieliten, in welchem bei seiner Rückkehr nach Moskau seine eignen Sektengenossen ihm Unrecht gaben, wurde für ihn Veranlassung zum Austritt aus der Gemeinde. Er siedelte nach dem Dorfe Ssopelki im Gouvernement Jaroslaw über, wo er im Jahr 1781 die Wandrer- Sekte stiftete und in einer Reihe von Schriften die Grundsätze derselben er¬ läuterte. Nach der Lehre des Evthymius und seiner Jünger ist der Antichrist nicht allein im Geiste, sondern auch sichtlich für leibliche Augen auf Erden er¬ schienen, und sein Zeichen ist nicht das Dreisingerkreuz, sondern die Unterord¬ nung unter die Fürsten und Obrigkeiten, die seine Diener sind. Der einzige Weg zum Heile ist also, nicht nur der Staatskirche, sondern auch dem Staate selbst fern zu bleiben und weder den Czaren noch irgend eine andere Gewalt auf Erden über sich anzuerkennen. Da indeß ein Kampf mit diesen Ge¬ walten unmöglich ist, so bleibt nur übrig, vor der Herrschaft des Antichrists zu fliehen, von der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und allen sonstigen politischen und socialen Einrichtungen sich lossagend in Wäldern und Wüsten¬ eien umherzuschweifen. Daher der Name. Die Mitglieder der Sekte zer¬ fallen in zwei Classen: eigentliche Wanderer (Stranniki) und „Herberge gebende Christen" (Shilowije Christiane) oder Asylgeber (Straunopriimzi). Als wirk¬ liche Wanderer gelten nur diejenigen, die nach Zerreißung aller gesellschaftlichen und Familienbande von Ort zu Ort umherziehn, in Wäldern und Steppe» oder auch — dann aber immer nur heimlich — in Städten und Dörfern sich aushalten, und die ein solches unablässiges Wandern in dieser bösen Zeit der Herrschaft des Antichrists für das alleinige Mittel zur Rettung der Seelen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/222>, abgerufen am 24.07.2024.