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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Sekten auf. Die ältesten sind die Kapitonen. Ihr Stifter war der Bauer
Kapiton, der sich in die Wildniß in der Gegend von Kostroma zurückzog und
hier bald eine Anzahl anderer Siedler um sich sammelte. Sein Streben ging
anfangs bei unverbrüchlicher Heilighaltung der "alten Bücher" besonders auf
möglichste Steigerung der Fasten. Er und seine Jünger lebten lediglich von
Beeren, Brot und Früchten, sie verwarfen sogar die Sitte der rothen Oster¬
eier und ersetzten sie durch rothe Zwiebelknollen. Durch das große Ansehen
verleitet, das er sich beim Volke erworben, hielt Kapiton sich zuletzt sür einen
Propheten und verwarf das Priesterthum der Kirche, ihre Sakramente und
jede Verbindung mit ihr, eine Lehre, die sein Hauptjünger, der Bauer Podre-
schetnikow schürfte und weiter ausbildete. Wie jener die Ostereier durch Zwie¬
beln ersetzt, führte dieser statt des Abendmahls eine andere Ceremonie ein, die
mit der unter diesen Fanatikern allmälig sich ausbildenden Sitte der "Selbst¬
entleibung für den Glauben" im Zusammenhang stand. Die Gemeinde ver¬
sammelte sich zu derselben im obern Geschoß einer großen Hütte. Dann er¬
schien ein in bunte Gewänder gekleidetes Mädchen mit einem Sieb voll Ro¬
sinen auf dem Kopfe, die von ihr, nachdem sie dreimal nach Art der Priester
die Worte gesprochen: "Der Herr, unser Gott, gedenke euer aller in seinem
Reiche, heut und immerdar, von Ewigkeit zu Ewigkeit," und die Gemeinde
darauf mit dreimaligem "Amen" geantwortet, unter die Anwesenden vertheilt
wurden. Nach Empfang dieses Viaticums pflegten sich regelmäßig einige
von der Gemeinde entweder durch Selbstverbrennung oder auf andere Art den
Tod "für den Glauben" zu geben.

Noch häufiger und massenhafter kam der religiöse Selbstmord in Sibirien
vor, wo sich der Raskol durch die Bemühungen eines zum Christenthum über¬
getretenen ungarischen Juden Abraham, eines verbannten Mörders Bezechi"
und mehrer exilirter Geistlicher schon frühzeitig ausgebreitet hatte. Die
schreckliche Verirrung der "zweiten unbefleckten Taufe im Feuer" war hier in
den letzten Jahrzehnten des siebzehnten Jahrhunderts fast zur Alltäglichkeit
geworden. In der Nähe von Jenisseisk verbrannten sich mit dem Popen
Domitian eines Tages nicht weniger als 1700 Fanatiker, und ein ähnliches,
freiwilliges Autodafe veranstaltete in der Gegend von Tomsk der Raskolniken-
führer Wassili Schaposchnik.

Die wichtigste der popcnlosen Sekten sind die Pomoränje oder Danie-
liten, die ihre Hauptsitze am weißen Meer und am Omega- und Wyg-See
haben. Nach der Erstürmung des Ssowoletzkischen Kohlers flüchteten die Reste
der dort besiegten Raskolniken aus das platte Land hinaus, sammelten An¬
hänger und gründeten neue Siedeleien. Der bekannteste dieser Flüchtlinge,
der Diakon Ignatius, ließ sich in der Wildniß nicht fern von der alten Stadt
Kargopol nieder und erlangte weit und breit großes Ansehen. Er nahm eine


Sekten auf. Die ältesten sind die Kapitonen. Ihr Stifter war der Bauer
Kapiton, der sich in die Wildniß in der Gegend von Kostroma zurückzog und
hier bald eine Anzahl anderer Siedler um sich sammelte. Sein Streben ging
anfangs bei unverbrüchlicher Heilighaltung der „alten Bücher" besonders auf
möglichste Steigerung der Fasten. Er und seine Jünger lebten lediglich von
Beeren, Brot und Früchten, sie verwarfen sogar die Sitte der rothen Oster¬
eier und ersetzten sie durch rothe Zwiebelknollen. Durch das große Ansehen
verleitet, das er sich beim Volke erworben, hielt Kapiton sich zuletzt sür einen
Propheten und verwarf das Priesterthum der Kirche, ihre Sakramente und
jede Verbindung mit ihr, eine Lehre, die sein Hauptjünger, der Bauer Podre-
schetnikow schürfte und weiter ausbildete. Wie jener die Ostereier durch Zwie¬
beln ersetzt, führte dieser statt des Abendmahls eine andere Ceremonie ein, die
mit der unter diesen Fanatikern allmälig sich ausbildenden Sitte der „Selbst¬
entleibung für den Glauben" im Zusammenhang stand. Die Gemeinde ver¬
sammelte sich zu derselben im obern Geschoß einer großen Hütte. Dann er¬
schien ein in bunte Gewänder gekleidetes Mädchen mit einem Sieb voll Ro¬
sinen auf dem Kopfe, die von ihr, nachdem sie dreimal nach Art der Priester
die Worte gesprochen: „Der Herr, unser Gott, gedenke euer aller in seinem
Reiche, heut und immerdar, von Ewigkeit zu Ewigkeit," und die Gemeinde
darauf mit dreimaligem „Amen" geantwortet, unter die Anwesenden vertheilt
wurden. Nach Empfang dieses Viaticums pflegten sich regelmäßig einige
von der Gemeinde entweder durch Selbstverbrennung oder auf andere Art den
Tod „für den Glauben" zu geben.

Noch häufiger und massenhafter kam der religiöse Selbstmord in Sibirien
vor, wo sich der Raskol durch die Bemühungen eines zum Christenthum über¬
getretenen ungarischen Juden Abraham, eines verbannten Mörders Bezechi»
und mehrer exilirter Geistlicher schon frühzeitig ausgebreitet hatte. Die
schreckliche Verirrung der „zweiten unbefleckten Taufe im Feuer" war hier in
den letzten Jahrzehnten des siebzehnten Jahrhunderts fast zur Alltäglichkeit
geworden. In der Nähe von Jenisseisk verbrannten sich mit dem Popen
Domitian eines Tages nicht weniger als 1700 Fanatiker, und ein ähnliches,
freiwilliges Autodafe veranstaltete in der Gegend von Tomsk der Raskolniken-
führer Wassili Schaposchnik.

Die wichtigste der popcnlosen Sekten sind die Pomoränje oder Danie-
liten, die ihre Hauptsitze am weißen Meer und am Omega- und Wyg-See
haben. Nach der Erstürmung des Ssowoletzkischen Kohlers flüchteten die Reste
der dort besiegten Raskolniken aus das platte Land hinaus, sammelten An¬
hänger und gründeten neue Siedeleien. Der bekannteste dieser Flüchtlinge,
der Diakon Ignatius, ließ sich in der Wildniß nicht fern von der alten Stadt
Kargopol nieder und erlangte weit und breit großes Ansehen. Er nahm eine


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[0219] Sekten auf. Die ältesten sind die Kapitonen. Ihr Stifter war der Bauer Kapiton, der sich in die Wildniß in der Gegend von Kostroma zurückzog und hier bald eine Anzahl anderer Siedler um sich sammelte. Sein Streben ging anfangs bei unverbrüchlicher Heilighaltung der „alten Bücher" besonders auf möglichste Steigerung der Fasten. Er und seine Jünger lebten lediglich von Beeren, Brot und Früchten, sie verwarfen sogar die Sitte der rothen Oster¬ eier und ersetzten sie durch rothe Zwiebelknollen. Durch das große Ansehen verleitet, das er sich beim Volke erworben, hielt Kapiton sich zuletzt sür einen Propheten und verwarf das Priesterthum der Kirche, ihre Sakramente und jede Verbindung mit ihr, eine Lehre, die sein Hauptjünger, der Bauer Podre- schetnikow schürfte und weiter ausbildete. Wie jener die Ostereier durch Zwie¬ beln ersetzt, führte dieser statt des Abendmahls eine andere Ceremonie ein, die mit der unter diesen Fanatikern allmälig sich ausbildenden Sitte der „Selbst¬ entleibung für den Glauben" im Zusammenhang stand. Die Gemeinde ver¬ sammelte sich zu derselben im obern Geschoß einer großen Hütte. Dann er¬ schien ein in bunte Gewänder gekleidetes Mädchen mit einem Sieb voll Ro¬ sinen auf dem Kopfe, die von ihr, nachdem sie dreimal nach Art der Priester die Worte gesprochen: „Der Herr, unser Gott, gedenke euer aller in seinem Reiche, heut und immerdar, von Ewigkeit zu Ewigkeit," und die Gemeinde darauf mit dreimaligem „Amen" geantwortet, unter die Anwesenden vertheilt wurden. Nach Empfang dieses Viaticums pflegten sich regelmäßig einige von der Gemeinde entweder durch Selbstverbrennung oder auf andere Art den Tod „für den Glauben" zu geben. Noch häufiger und massenhafter kam der religiöse Selbstmord in Sibirien vor, wo sich der Raskol durch die Bemühungen eines zum Christenthum über¬ getretenen ungarischen Juden Abraham, eines verbannten Mörders Bezechi» und mehrer exilirter Geistlicher schon frühzeitig ausgebreitet hatte. Die schreckliche Verirrung der „zweiten unbefleckten Taufe im Feuer" war hier in den letzten Jahrzehnten des siebzehnten Jahrhunderts fast zur Alltäglichkeit geworden. In der Nähe von Jenisseisk verbrannten sich mit dem Popen Domitian eines Tages nicht weniger als 1700 Fanatiker, und ein ähnliches, freiwilliges Autodafe veranstaltete in der Gegend von Tomsk der Raskolniken- führer Wassili Schaposchnik. Die wichtigste der popcnlosen Sekten sind die Pomoränje oder Danie- liten, die ihre Hauptsitze am weißen Meer und am Omega- und Wyg-See haben. Nach der Erstürmung des Ssowoletzkischen Kohlers flüchteten die Reste der dort besiegten Raskolniken aus das platte Land hinaus, sammelten An¬ hänger und gründeten neue Siedeleien. Der bekannteste dieser Flüchtlinge, der Diakon Ignatius, ließ sich in der Wildniß nicht fern von der alten Stadt Kargopol nieder und erlangte weit und breit großes Ansehen. Er nahm eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/219>, abgerufen am 24.07.2024.