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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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sich nur ein einziger Bischof, und nur solcher war zur Weihe von Priestern berechtigt-
Als derselbe starb, war in den Reihen der Altgläubigen Niemand, der neue Popen
zu weihen vermocht hätte, und so gerieth der Raskol bald in das Dilemma,
entweder alle Popen für unnöthig zu erklären und das Recht der Lehre und
der geistlichen Amtshandlungen auch ungeweihter Personen zuzugestehen oder
von Bischöfen der Staatskirche geweihte, später zum Schisma übergetretene
Popen bei sich als solche aufnehmen zu müssen. Beide Wege wurden gleich
anfänglich eingeschlagen, und es gibt in Folge dessen jetzt zwei Haupthelden
der Raskolniken, die Popen losen und die hierarchischen oder mit Popen
versehenen. Beide spalteten sich im Lauf der Zeit in zahlreiche Untersektcn
oder Lehrgcmeinschasten, die Ssoglassija oder Tolli genannt werden.

Die hierarchische Sektengruppe unterwirft nun allerdings die zu ihr über¬
tretenden Geistlichen der russischen Kirche einer neuen Oelung und verlangt
von ihnen feierliche Abschwörung aller nikonianischcn Ketzereien, aber sie er¬
kennt doch die in der Mutterkirche vollzogene Priesterweihe an und steht so
zu dieser Kirche in einem gewissen Verhältniß des Zusammenhangs und der
Abhängigkeit. Die zu ihr übertretenden Neugläubigen werden keiner Ncu-
taufe unterworfen, und in ihren Gemeinden wird für den Czaren gebetet.

Dagegen zerreißt die popcnlose Hauptsekte grundsätzlich allen Zusammen¬
hang mit der Staatskirche, in welcher nach ihrer Meinung der Antichrist
herrscht, der vornehmlich in den Gewalthabern der Erde (Wlastodershzi) lebt.
Sie verbietet, für den Czaren zu beten und unterwirft alle Konvertiten einer
Wiedertaufe. Außer der Taufe und der Beichte, die von Laien beider Ge¬
schlechter admimstrirt werden, erkennt sie kein anderes Sakrament an. Das
Abendmahl wird bei einzelnen ihrer Lchrgemcinschaften durch besondere, dem¬
selben ähnliche Gebräuche ersetzt, die Ehe in der Regel ganz verworfen. Bei
dem Verlangen unbedingter Ehelosigkeit gestatten sie jedoch das wilde Zu¬
sammenleben der Geschlechter, ja einige Sekten begünstigen dasselbe, indem sie
es als "christliche, heilige Geschwisterliebe" bezeichnen. Als charakteristisches
Merkmal der Popenlosen ist endlich der Selbstmord als Glaubensmaxime her¬
vorzuheben. Ueberzeugt, daß der Antichrist gekommen sei und in der russischen
Staatskirche herrsche, daß mithin der Untergang der Welt nahe bevorstehe,
empfehlen sie ihren Anhängern entweder durch Selbstverbrennung oder durch
den Hungertod in das Himmelreich einzugehn. Die erstere Todesart wurde
als Feuertaufe, als Taufe mit dem heiligen Geiste, der nach den alten Büchern
eben Feuer sein sollte, die letztere als ein alle Sünde tilgendes Fasten auf¬
gefaßt. Die Tausende, die sich auf diese ganz an den altkanaanitischen Mo¬
lochsdienst erinnernde Weise den Tod gaben, galten den Ueberlebenden als
verklärte Märtyrer.

Wir führen zunächst die bekannteren von den popenlosen Raskolniken'


sich nur ein einziger Bischof, und nur solcher war zur Weihe von Priestern berechtigt-
Als derselbe starb, war in den Reihen der Altgläubigen Niemand, der neue Popen
zu weihen vermocht hätte, und so gerieth der Raskol bald in das Dilemma,
entweder alle Popen für unnöthig zu erklären und das Recht der Lehre und
der geistlichen Amtshandlungen auch ungeweihter Personen zuzugestehen oder
von Bischöfen der Staatskirche geweihte, später zum Schisma übergetretene
Popen bei sich als solche aufnehmen zu müssen. Beide Wege wurden gleich
anfänglich eingeschlagen, und es gibt in Folge dessen jetzt zwei Haupthelden
der Raskolniken, die Popen losen und die hierarchischen oder mit Popen
versehenen. Beide spalteten sich im Lauf der Zeit in zahlreiche Untersektcn
oder Lehrgcmeinschasten, die Ssoglassija oder Tolli genannt werden.

Die hierarchische Sektengruppe unterwirft nun allerdings die zu ihr über¬
tretenden Geistlichen der russischen Kirche einer neuen Oelung und verlangt
von ihnen feierliche Abschwörung aller nikonianischcn Ketzereien, aber sie er¬
kennt doch die in der Mutterkirche vollzogene Priesterweihe an und steht so
zu dieser Kirche in einem gewissen Verhältniß des Zusammenhangs und der
Abhängigkeit. Die zu ihr übertretenden Neugläubigen werden keiner Ncu-
taufe unterworfen, und in ihren Gemeinden wird für den Czaren gebetet.

Dagegen zerreißt die popcnlose Hauptsekte grundsätzlich allen Zusammen¬
hang mit der Staatskirche, in welcher nach ihrer Meinung der Antichrist
herrscht, der vornehmlich in den Gewalthabern der Erde (Wlastodershzi) lebt.
Sie verbietet, für den Czaren zu beten und unterwirft alle Konvertiten einer
Wiedertaufe. Außer der Taufe und der Beichte, die von Laien beider Ge¬
schlechter admimstrirt werden, erkennt sie kein anderes Sakrament an. Das
Abendmahl wird bei einzelnen ihrer Lchrgemcinschaften durch besondere, dem¬
selben ähnliche Gebräuche ersetzt, die Ehe in der Regel ganz verworfen. Bei
dem Verlangen unbedingter Ehelosigkeit gestatten sie jedoch das wilde Zu¬
sammenleben der Geschlechter, ja einige Sekten begünstigen dasselbe, indem sie
es als „christliche, heilige Geschwisterliebe" bezeichnen. Als charakteristisches
Merkmal der Popenlosen ist endlich der Selbstmord als Glaubensmaxime her¬
vorzuheben. Ueberzeugt, daß der Antichrist gekommen sei und in der russischen
Staatskirche herrsche, daß mithin der Untergang der Welt nahe bevorstehe,
empfehlen sie ihren Anhängern entweder durch Selbstverbrennung oder durch
den Hungertod in das Himmelreich einzugehn. Die erstere Todesart wurde
als Feuertaufe, als Taufe mit dem heiligen Geiste, der nach den alten Büchern
eben Feuer sein sollte, die letztere als ein alle Sünde tilgendes Fasten auf¬
gefaßt. Die Tausende, die sich auf diese ganz an den altkanaanitischen Mo¬
lochsdienst erinnernde Weise den Tod gaben, galten den Ueberlebenden als
verklärte Märtyrer.

Wir führen zunächst die bekannteren von den popenlosen Raskolniken'


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[0218] sich nur ein einziger Bischof, und nur solcher war zur Weihe von Priestern berechtigt- Als derselbe starb, war in den Reihen der Altgläubigen Niemand, der neue Popen zu weihen vermocht hätte, und so gerieth der Raskol bald in das Dilemma, entweder alle Popen für unnöthig zu erklären und das Recht der Lehre und der geistlichen Amtshandlungen auch ungeweihter Personen zuzugestehen oder von Bischöfen der Staatskirche geweihte, später zum Schisma übergetretene Popen bei sich als solche aufnehmen zu müssen. Beide Wege wurden gleich anfänglich eingeschlagen, und es gibt in Folge dessen jetzt zwei Haupthelden der Raskolniken, die Popen losen und die hierarchischen oder mit Popen versehenen. Beide spalteten sich im Lauf der Zeit in zahlreiche Untersektcn oder Lehrgcmeinschasten, die Ssoglassija oder Tolli genannt werden. Die hierarchische Sektengruppe unterwirft nun allerdings die zu ihr über¬ tretenden Geistlichen der russischen Kirche einer neuen Oelung und verlangt von ihnen feierliche Abschwörung aller nikonianischcn Ketzereien, aber sie er¬ kennt doch die in der Mutterkirche vollzogene Priesterweihe an und steht so zu dieser Kirche in einem gewissen Verhältniß des Zusammenhangs und der Abhängigkeit. Die zu ihr übertretenden Neugläubigen werden keiner Ncu- taufe unterworfen, und in ihren Gemeinden wird für den Czaren gebetet. Dagegen zerreißt die popcnlose Hauptsekte grundsätzlich allen Zusammen¬ hang mit der Staatskirche, in welcher nach ihrer Meinung der Antichrist herrscht, der vornehmlich in den Gewalthabern der Erde (Wlastodershzi) lebt. Sie verbietet, für den Czaren zu beten und unterwirft alle Konvertiten einer Wiedertaufe. Außer der Taufe und der Beichte, die von Laien beider Ge¬ schlechter admimstrirt werden, erkennt sie kein anderes Sakrament an. Das Abendmahl wird bei einzelnen ihrer Lchrgemcinschaften durch besondere, dem¬ selben ähnliche Gebräuche ersetzt, die Ehe in der Regel ganz verworfen. Bei dem Verlangen unbedingter Ehelosigkeit gestatten sie jedoch das wilde Zu¬ sammenleben der Geschlechter, ja einige Sekten begünstigen dasselbe, indem sie es als „christliche, heilige Geschwisterliebe" bezeichnen. Als charakteristisches Merkmal der Popenlosen ist endlich der Selbstmord als Glaubensmaxime her¬ vorzuheben. Ueberzeugt, daß der Antichrist gekommen sei und in der russischen Staatskirche herrsche, daß mithin der Untergang der Welt nahe bevorstehe, empfehlen sie ihren Anhängern entweder durch Selbstverbrennung oder durch den Hungertod in das Himmelreich einzugehn. Die erstere Todesart wurde als Feuertaufe, als Taufe mit dem heiligen Geiste, der nach den alten Büchern eben Feuer sein sollte, die letztere als ein alle Sünde tilgendes Fasten auf¬ gefaßt. Die Tausende, die sich auf diese ganz an den altkanaanitischen Mo¬ lochsdienst erinnernde Weise den Tod gaben, galten den Ueberlebenden als verklärte Märtyrer. Wir führen zunächst die bekannteren von den popenlosen Raskolniken'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/218>, abgerufen am 24.07.2024.